P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
System zusammenbricht. Doch statt auf sich selbst zu vertrauen und das Naheliegende zu tun, hoffen sie immer noch auf Retter. Aber die Retter sind genau die, die die Krise verursacht haben, die von ihr profitieren. Wir dürfen nicht als nochmals andere, viel schlauere Retter auftreten. Wir müssen nicht vorangehen, sondern uns an die Seite der Leute stellen.«
»Das kenne ich: Wer vorangeht, stirbt.«
»Richtig, niemand will, dass jemand für ihn stirbt. Märtyrer sind Egoisten.«
»Na gut«, meinte ich, »wir müssen mit den Leuten reden, auf ihre Ängste eingehen, sie dort abholen, wo sie stehen, an ihrer Seite sein. Aber warum gerade wir? Wer sind wir denn? Die Leute reden doch schon die ganze Zeit miteinander…«
»Das tun sie eben nicht«, widersprach mir Marcel, »sie wischen alles unter den Tisch. Sie verdrängen, konsumieren, lassen sich unterhalten.«
»Und wie wollt ihr sie erreichen? In den Einkaufszentren? Vor den Clubs? Oder wollt ihr etwa an den Türen läuten und sagen: Wir kommen, um mit Ihnen zu reden, hätten Sie eine halbe Stunde Zeit?«
Sie lehnten sich alle zurück und schauten mich zufrieden grinsend an.
»Exakt«, sagte dann Nora, »an den Türen läuten und eine halbe Stunde reden.«
»Ist doch besser als zu Versammlungen und Demos einzuladen, zu denen dann niemand kommt«, setzte Claudia nach. »Die gute alte Missionsarbeit«, bestärkte sie Rita.
»Ihr seid wahnsinnig«, entfuhr es mir.
»Wie willst du sonst die Leute erreichen?«, fragte Marcel mit ernster Miene zurück.
»Etwa via Facebook?«, provozierte Rita.
Das Problem war: Ich wollte gar niemanden mehr erreichen. Die Lust war mir schon vor Jahren vergangen. Ich wollte in Ruhe gelassen werden. »Und dann verkauft ihr den Leuten das Buch da?«
»Jetzt wirst du unnötig gemein«, gab Rita zurück.
»Okay, ich nehm das zurück. Ich versuche nur zu verstehen, was ihr da vorschlagt. Ihr läutet an der Wohnungstür, zu zweit, gut angezogen, nehm ich mal an, dann seht ihr das misstrauische Gesicht von Frau Fritsche, die gerade begonnen hat, für Mann und Kinder zu kochen…«
»Klischee!«, unterbrach mich jemand.
»Stimmt. In der Regel wird es ein Single sein, dem ihr den Feierabend versaut, denn 60% der Haushalte sind Single-Haushalte…«
»… jetzt wirst du konstruktiv«, ermunterte mich Nora.
»Ihr müsst sagen, wer ihr seid, euch definieren. Zum Beispiel: Wir wohnen in diesem Quartier und machen uns Sorgen über die Zukunft. Nein, da schlagen sie euch die Tür einfach wieder zu. Vielleicht hört ihr noch: keine Zeit! Ich kaufe nichts! Ich habe schon gegeben!«
»Nicht schlecht«, meinte Rita, »nur macht das kaum jemand. Die Leute schlagen die Tür nicht zu. Wir sagen tatsächlich: Die Wirtschaft liegt am Boden, jetzt müssen wir zusammen schauen, wie wir unser Leben einrichten.«
»Und das wollt ihr sagen – einfach so? Und wie legitimiert ihr euch?«
»Es braucht doch keine Legitimation«, korrigierte mich Margrit, »das allein schon ist eine altmodische Vorstellung. Wir alle sind legitimiert, uns Gedanken über die Zukunft zu machen. Wir sind einfach besorgte MitbürgerInnen. Das genügt doch.«
»Ich verstehe. Ihr seid besorgt, aber gerade habt ihr gesagt, dass alle besorgt sind. Warum besuchen nicht die andern besorgten Mitbürger
euch
? Was macht euch so speziell?«
»Wir sind einfach speziell«, rief Claudia triumphierend aus. »Darauf trinken wir«, schlug ich vor und holte mehr Bier. Ich unterdrückte einen mächtigen Fluchtimpuls. Dieses Alívio entpuppte sich als hinterhältige Falle.
Wir tranken darauf, dass wir speziell waren. Alle lachten. Ich nicht.
»Wir sind also die, die mit klopfendem Herzen vor den Wohnungstüren stehen«, fasste ich zusammen, »sofern wir überhaupt durch alle Schließysteme hindurch so weit kommen.«
Ich hoffte, dass endlich jemand zur Vernunft kam. Aber das Alívio-Virus hatte sie längst befallen. Sie hatten wirklich Appetit auf Kommunikation, auf soziale Konstruktionen, auf Bewegung an der Basis.
»Ja, wir sind die spezielle Besuchsbewegung«, erklärte Rita.
»Und das steht in diesem Büchlein?« Ich versuchte wieder, es zu erhaschen.
Marcel schnappte es mir weg.
»So beginnt es«, antwortete er, »dann kommen ein paar wichtige Fragen und ein bisschen Know-how. Wir stellen uns ja nicht dümmer, als wir sind. Wir haben Vorschläge und Ideen, aber nicht am Anfang, sondern erst im Laufe des Dialogs.«
»Aber so wirklich ernst ist es euch nicht?«, fragte ich
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