Polgara die Zauberin
müßten. Das Wohlergehen der Rivaner könnte von ihrem Wissen abhängen. Und das ist die vornehmste Aufgabe eines Führers, nicht wahr – ob er jetzt Wölfe oder Menschen führt.«
Ce'Nedra freute sich insgeheim diebisch. Ihre zusammengewürfelten Argumente vom Vortag hatten Poledra offensichtlich auf ihre Seite gebracht.
»Worauf wollen wir hinaus, Mutter?« fragte Polgara mißtrauisch.
»Du trägst auch eine Verantwortung, Polgara – den Jungen gegenüber«, versetzte ihre Mutter. »Das ist unsere wichtigste Pflicht. Der Meister hat dir eine Aufgabe auferlegt, und du hast sie noch nicht zu Ende gebracht.«
Polgara warf Ce'Nedra einen scharfen Blick zu.
»Ich habe nichts damit zu tun, Tante Pol«, säuselte Ce'Nedra mit Unschuldsmiene. »Ich habe Eure Mutter lediglich um Rat gefragt, sonst nichts.«
Die beiden Augen – gelbbraun das eine, das andere tiefblau – bohrten sich in sie.
Ce'Nedra wurde wirklich rot.
»Sie will etwas, Polgara«, sagte Poledra. »Gib es ihr. Dir tut es nicht weh, und darüber hinaus ist es ein Bestandteil der Aufgabe, die du freiwillig auf dich genommen hast. Wir Wölfe verlassen uns auf unsere Instinkte; Menschenwesen brauchen Anleitung. Du hast den Großteil deines Lebens damit verbracht, für die Jungen zu sorgen – und sie anzuleiten. Du weißt also, was nötig ist. Schreib einfach nieder, was wirklich geschehen ist, und bring's hinter dich.«
»Aber doch gewiß nicht alles! « rief Polgara entsetzt aus. »Manches davon ist nun wirklich zu privat«
Poledra lachte tatsächlich. »Du hast immer noch eine Menge zu lernen, meine Tochter. Weißt du denn immer noch nicht daß es unter Wölfen so etwas wie Privatsphäre nicht gibt? Wir teilen alles. Möglicherweise nützt die Information eines Tages dem Führer der Rivaner – und deinen eigenen Kindern ebenso. Also laß uns dafür sorgen, daß sie das bekommen, was sie brauchen. Tu es einfach, Polgara. Du solltest wirklich wissen, daß es sich nicht lohnt mit mir zu streiten.«
Polgara seufzte. »Ja, Mutter«, erwiderte sie ergeben.
Ce'Nedra hatte in diesem Augenblick eine Art Offenbarung, und sie gefiel ihr ganz und gar nicht. Polgara die Zauberin war die mächtigste Frau der Welt. Sie besaß Titel über Titel, und die gesamte Welt beugte vor ihr das Knie, und trotzdem blieb sie auf eine geheimnisvolle Weise ein Wolf, und wenn das ranghöhere Weibchen – in diesem Fall ihre Mutter – einen Befehl erteilte, gehorchte sie ohne nachzudenken. Ce'Nedras Abstammung war gemischt – teils borunisch, teils dryadisch. Mit ihrem Vater, dem Kaiser von Tolnedra, hatte sie ausgiebig gestritten, aber wenn Xantha, die Königin der Dryaden, ihr etwas befahl, nörgelte Ce'Nedra vielleicht ein bißchen, gehorchte aber. Das hatte sie mit der Muttermilch aufgesogen. Sie begann Polgara in einem etwas anderen Licht und folglich auch sich selbst anders zu sehen.
»Es ist ein Anfang«, sagte Poledra geheimnisvoll. »Also dann, Tochter«, wandte sie sich an Polgara, »so schwierig wird es schon nicht werden. Ich rede mit ihm, und er wird dir zeigen, wie man es ohne diese lästigen Federkiele und Tintenfässer macht. Es ist deine Pflicht, also hör auf, dich zu beklagen.«
»Ganz wie meine Mutter es wünscht«, erwiderte Polgara.
»Nun gut«, sagte Poledra, »jetzt wo das erledigt ist hätten die Damen vielleicht gern noch eine Tasse Tee?«
Polgara und Ce'Nedra tauschten einen raschen Blick. »Warum nicht«, seufzte Polgara.
TEIL EINS BELDARAN
K APITEL 1
Dies hier war nicht meine Idee. Das möchte ich von Anfang an klarstellen. Die Vorstellung, irgend jemand könne beschreiben, ›was wirklich geschehen ist‹, ist absurd. Wenn zehn – oder hundert – Leute Zeugen eines Ereignisses werden, dann wird es zehn – oder hundert – verschiedene Versionen dessen geben, was vorgefallen ist. Was wir sehen und wie wir es deuten, hängt völlig von unseren persönlichen Erfahrungen ab, die wir in der Vergangenheit gemacht haben. Meine Mutter hat indes darauf bestanden, daß ich mich dieser lachhaften Aufgabe unterziehe, und ich werde wie immer tun, was sie mir sagt.
Doch je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto klarer ist mir geworden, daß Ce'Nedra, als sie das Thema erst mir und dann meiner Mutter gegenüber anschnitt, mit ihrem offensichtlichen Scheinargument bezüglich des ›Wohlergehens der Jungen‹ der Wahrheit näher kam, als das hinterhältige kleine Ding es ahnte. Eines Tages wird Geran König von Riva und Hüter des Orb sein, und im Verlauf
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