Sommerkuesse
14. Juni, 16.00 Uhr Prucher Hall (Audimax)
Mit übereinander geschlagenen Beinen sitze ich auf einem unbequemen Stuhl und warte darauf, dass jemand eine Rede hält. Es ist jetzt ungefähr eine Dreiviertelstunde her, seit Mom und Dad mich in Prucher Hall abgeliefert haben. Ich bleibe die ganzen Sommerferien über hier und kenne keinen einzigen Menschen.
Ich schlage mein dickes, neues Ringbuch auf. Auf dem Deckblatt steht in Blockbuchstaben FELDBEOBACHTUNGEN, ansonsten habe ich noch nichts reingeschrieben. Ich blättere zur ersten leeren Seite vor und schreibe:
hypothese: der besuch eines archäologieseminars an einer richtigen universität wird nicola lancaster in ihrem lebenslangen traum bestärken, archäologin zu werden.
»Ihrem lebenslangen Traum« streiche ich wieder, weil sich das zu unwissenschaftlich anhört, und ersetze es durch »ihrer beabsichtigten Berufswahl«, aber das klingt zu geschwollen, weshalb ich doch wieder »ihrem lebenslangen Traum« hinschreibe, und dann fetter darüber: »ignorieren – klingt voll bescheuert«. Ein paar Zeilen darunter schreibe ich: »Notizen«.
Nur für den Fall dass ich mir während der Rede welche machen sollte.
Ein dicker, kahler rosaroter Mann mit einem etwas zu knapp sitzenden marineblauen Anzug erklimmt die Bühne und geht auf das in der Mitte stehende Rednerpult zu. Er schnippt mehrmals gegen das Mikrofon, bis er das erwünschte statische Knacksen hört.
»So. Dann möchte ich euch alle herzlich begrüßen und sagen, wie sehr ich mich freue, euch im Namen des Siegel Institute zu unserem Sommerkurs für hochbegabte Schüler willkommen heißen zu dürfen. Unsere Institution betrachtet es als eine Ehre, jungen Menschen wie euch, die sich durch herausragende Begabung auszeichnen, bei ihren ersten Gehversuchen auf akademischem Terrain unter die Arme zu greifen.«
wenn man seine stimme in flaschen abfüllen würde, bräuchte man nie mehr salatöl zu kaufen.
Ich sehe mich um.
wer ist außer mir noch dazu verdammt, hier zu sitzen? eingeschüchtert aussehende schüler in den vorderen reihen. jungs mit grausamen haarschnitten, spießerhemden und krawatten. mädchen in perfekt gebügelten pastellfarbenen blümchenkleidern. ein rothaariger typ im dreiteiler mit weste. hauptsächlich weiße, ein paar asiaten, nur wenige schwarze. wie üblich haben sich die angehörigen der einzelnen ethnien in grüppchen nebeneinander gesetzt. vier schwarz gekleidete mädchen mit blauschwarz gefärbten haaren sitzen zusammen
und gucken angeödet: stellen gruftis eine eigene ethnische gruppe dar?
Zwei Plätze rechts von mir fällt mir ein großes, ziemlich kräftiges Mädchen mit graublauen Augen und wuscheligen roten Locken auf. Sie trägt ein grünes Samtkleid und schwarze Sandalen und ist darin vertieft, ihre Fußnägel im selben Grün zu lackieren wie ihr Kleid. Ihre Fingernägel sind lila. Ich fange an, sie zu skizzieren, und bin gespannt, ob es mir gelingt, ihre Haare und diesen total konzentrierten Blick wiederzugeben.
Den Gesichtsausdruck kriege ich noch hin, aber dann scheitere ich an der Lockenmähne, und beim Versuch, die Haare zu retten, versaue ich ihren Blick doch wieder.
Links von mir sitzt ein Typ und daneben wieder ein Mädchen. Der Junge hat längeres, leicht gewelltes dunkelbraunes Haar, raupenartige Augenbrauen und eine Brille mit achteckigen Gläsern. Über seine Augen kann ich nichts sagen. Sie sind nämlich zu. Er kriegt überhaupt nicht mit, dass er gezeichnet wird, weil er schläft. Tief und fest – aus einem seiner Mundwinkel rinnt glitzernd Sabber.
Ich zeichne die geschlossenen Augen und den offen stehenden Mund. Der Spuckefaden ist eine echte Herausforderung. Auf dem Papier sieht er wesentlich schlimmer aus als in Wirklichkeit.
Ich schaue wieder zur Bühne. »Ihr solltet euch aber darüber im Klaren sein, dass Begabung qua Begabung – mit anderen Worten, die Begabung für sich genommen – noch kein ausreichendes Rüstzeug ist, um die Probleme der modernen Welt in Angriff zu nehmen.«
mit rüstzeug kann man gar nicht angreifen. rüstung bietet höchstens schutz vor einem angriff.
Ich zeichne den dicken, kahlen rosaroten Mann: ein Ei mit Armen und Beinen und obendrauf ein kleineres Ei als Kopf. Jetzt sieht er aus wie Humpty Dumpty aus dem Kinderlied:
Humpty Dumpty saß auf dem Eck, Humpty Dumpty fiel in den Dreck. Auch der König mit seinem Heer rettete Humpty Dumpty nicht mehr.
Ich zeichne eine Mauer unter den Eiermann, und dann noch ein zweites Bild
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