Pompeji
Freiliegende Mauern stürzten, Dächer explodierten, Dachziegel, Steine, Balken und Körper flogen auf ihn zu, aber so langsam, wie es ihm in dem langen Augenblick vor seinem Tod vorkam, dass er ihr Wirbeln sehen konnte. Und dann traf ihn die Glut, ließ seine Trommelfelle platzen, setzte sein Haar in Brand, riss ihm Kleider und Schuhe vom Leibe, wirbelte ihn kopfüber herum und ließ ihn gegen die Mauer eines Gebäudes prallen.
Er starb in dem Augenblick, den die Lawine brauchte, um die Bäder zu erreichen, durch die offenen Fenster zu schießen und seine Frau zu ersticken, die, bis zuletzt gehorsam, an ihrem Platz im Schwitzraum geblieben war. Sie erreichte seinen Sohn, der die Flucht ergriffen hatte und den Isis-Tempel zu erreichen versuchte, und riss ihn von den Füßen. Dann überrollte sie den Hausverwalter und den Pförtner Massavo, die die Straße hinunter auf das Stabiae-Tor zurannten. Sie erreichte das Bordell, in das sein Besitzer Africanus zurückgekehrt war, um seine Einnahmen in Sicherheit zu bringen, und in dem Smyrina sich unter Exomnius' Bett versteckt hatte. Sie tötete Brebix, der zu Beginn des Ausbruchs in die Gladiatorenschule gegangen war, um bei seinen früheren Kameraden zu sein, und Musa und Corvinus, die beschlossen hatten, sich ihm anzuschließen, weil sie glaubten, er könne sie mit seiner Ortskenntnis schützen. Sie tötete sogar den getreuen Polites, der im Hafen Schutz gesucht hatte und in die Stadt zurückgekehrt war, um zu sehen, ob er Corelia helfen konnte. Sie tötete mehr als zweitausend Menschen in weniger als einer halben Minute und hinterließ die Leichen in zahlreichen grotesken Positionen, in denen die Nachwelt sie bis heute begaffen kann.
Denn obwohl ihr Haar und ihre Kleider brannten, erloschen diese Feuer wegen des Mangels an Sauerstoff sehr rasch, und danach ergoss sich eine direkt auf die Glutlawine folgende, sechs Fuß dicke Ascheflut über die Stadt, verhüllte die Landschaft und formte jedes Detail ihrer Opfer ab. Die Asche verhärtete sich. Weiterer Bimsstein regnete herab. In ihren verborgenen Höhlen verwesten die Körper, und mit ihnen verschwand im Laufe der Jahrhunderte die Erinnerung daran, dass es an dieser Stelle jemals eine Stadt gegeben hatte. Pompeji wurde ein Ort mit perfekt abgeformten hohlen Bürgern – zusammengeschart oder einzeln, mit abgerissenen oder über den Kopf gestülpten Kleidern, verzweifelt nach ihren Lieblingsbesitztümern greifend oder mit nichts in den Händen – Tausende von Hohlräumen, die auf der Höhe ihrer Dächer mitten in der Luft hingen.
In Stabiae erfasste der Wind, der die Glutwelle begleitete, das provisorische Zelt aus dem Segel der Minerva und hob es vom Strand ab. Die jetzt schutzlosen Menschen konnten sehen, wie die glühende Wolke Pompeji überrollte und direkt auf sie zukam.
Alle ergriffen die Flucht, Pomponianus und Popidius als Erste.
Sie hätten Plinius mitgenommen. Torquatus und Alexion hatten seine Arme ergriffen und ihn hochgezogen. Aber der Befehlshaber wollte nicht mehr weiter, und als er ihnen barsch befahl, sie sollten ihn hier liegen lassen und sich selbst in Sicherheit bringen, wussten sie, dass er es ernst meinte. Alexion raffte seine Notizen zusammen und wiederholte sein Versprechen, sie dem Neffen des alten Mannes auszuhändigen. Torquatus salutierte. Und dann war Plinius allein.
Er hatte alles getan, was er konnte. Er hatte die Manifestation in all ihren Stadien festgehalten. Er hatte ihre Phasen beschrieben – Säule, Wolke, Sturm, Feuer – und dabei seinen Wortschatz erschöpft. Er hatte ein langes Leben gelebt, hatte viele Dinge gesehen, und nun hatte ihm die Natur diesen letzten Einblick in ihre Kräfte gewährt. In diesen letzten Momenten seiner Existenz beobachtete er genauso scharf, wie er es in seiner Jugend getan hatte – und welche größere Gnade als das konnte ein Mann verlangen?
Die Linie aus Licht war sehr hell und dennoch von flackernden Schatten durchzogen. Was hatten sie zu bedeuten? Er war noch immer neugierig.
Die Menschen verwechselten Messungen mit Verstehen.
Und sie mussten sich immer in den Mittelpunkt allen Geschehens stellen. Das war ihr größter Dünkel. Die Erde erwärmt sich – es muss unsere Schuld sein! Der Berg vernichtet uns – wir haben die Götter nicht besänftigt! Es regnet zu viel, es regnet zu wenig – es ist tröstlich zu glauben, dass diese Dinge irgendwie mit unserem Verhalten zusammenhängen, dass, wenn wir nur ein bisschen besser, ein
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