Porterville - Mystery-Serie: Edition I (Folgen 1-6)
teuren und irgendwie offiziellen Eindruck. Vielleicht hatten die Nachbarn Besuch. Ich erinnerte mich, dass die schrullige Mrs. Matthau von gegenüber mal erzählt hatte, dass ihr Vetter bei der Regierung arbeitete.
Ich zuckte mit den Schultern, ging zurück ins Haus und wartete in der verwaisten Küche auf meine Freunde. Dabei fiel mein Blick auf Selmas heilige Utensilien. Alles war akkurat in Reih und Glied angeordnet. Eine kürbisfarbene Schürze hing sorgfältig gefaltet an einem Haken neben der Spüle, auf der ein Korb mit Schälmessern, Wurzelbürste und einem Stück altmodischer Kernseife stand. Auf der Anrichte rechts neben der Spüle befand sich eine Schale mit kunstvoll drapiertem Obst in der Gesellschaft mehrerer Kochbücher und einer verbeulten Blechdose, in der Selma ihre selbstgebackenen Kekse verwahrte. Ich nahm die Dose und öffnete sie. Der Duft von Sandgebäck und Kindheit stieg mir in die Nase … und leise ertönte Selmas Warnung in meinen Ohren:
„Dann kommt der Jäger und schießt sie dir ab, deine Nase!“
Ich nahm zwei der mit blauem Zuckerguss verzierten Kekse und aß sie. Versonnen betrachtete ich dabei den abgegriffenen Schriftzug auf der Dose. Schon tausend Mal hatte ich ihn gelesen und war nicht schlau daraus geworden. Irgendetwas mit ORT und ILL und darunter in geschwungener Schrift LY PIC REG NT HO L.
„Ich kaufe ein O“, sagte ich scherzhaft vor mich hin und stellte die Dose zurück. „Ein O wie Olymp … nee, warte mal. Das gibt es doch nicht!“ Aufgeregt nahm ich die Dose wieder in die Hand. Von einem plötzlichen Geistesblitz ergriffen, ersetzte mein Gehirn die fehlenden Buchstaben. Ich stutzte verblüfft. Das war unmöglich!
„Olympic Regent Hotel!“, las ich laut und ließ mich vollkommen perplex auf einen Küchenstuhl sinken. Olympic Regent! Konnte das sein? Das sagte mein Dad beinahe jede Nacht im Schlaf! Aber warum war dieser Name auf einer Keksdose und warum konnte Dad sich nicht daran erinnern?
Ich konzentrierte mich auf die abgeblätterte Schrift. Was bedeuteten die anderen Buchstaben? ORT ILL …
Plötzlich klingelte es an der Tür. Beinahe erschrocken sprang ich auf, hastete durch den Flur und öffnete.
Es waren Ben und Addy. Ich ließ sie herein.
Ben grinste und zeigte auf die offene Keksdose in meiner Hand. „Willst du einen ausgeben?“
„Ich, äh, eigentlich nicht, aber wenn ihr wollt, greift zu.“
Ben und Addy nahmen sich ein paar Kekse und ich stellte die Dose auf das Vertiko im Flur. Wir gingen hinauf in mein Zimmer und schlossen die Tür hinter uns. Ben und Addy setzten sich auf mein Bett und ich öffnete meinen kleinen Zimmerkühlschrank und warf den beiden je eine kalte Coke zu. Danach riss ich mir auch eine Dose auf und stieß mit meinen Freunden an.
„Auf unsere Nachforschungen!“
„Auf das Geheimnis von Capitán Rodriguez Perrez!“, sagte Addy und lächelte verschwörerisch.
Ob sie Ben von der Sache in der Mensa erzählt hatte? Bestimmt. Nur warum hatte Ben dann noch keinen seiner Scherze darüber gemacht oder mich nach dem Zwischenfall befragt? Ich beließ es vorerst dabei und ging zu meinem Schreibtisch, über dem ein Modellflugzeug an einem Stück Angelschnur hing. Ein roter Doppeldecker mit einem weißen Vogel auf dem Bug. Das war einer von den wenigen Gegenständen meiner Kindheit, die ich aufgehoben hatte, obwohl ich mich nicht daran entsinnen konnte, wann ich das Flugzeug geschenkt bekommen hatte. Irgendwie war der Doppeldecker schon immer da gewesen.
Ich drehte das Flugzeug auf die Seite und schüttelte einen kleinen Schlüssel aus der Pilotenkanzel. Weiter hinten im Rumpf befand sich noch ein weiteres Versteck. Ein kleines Metallkästchen. Als Kind habe ich mir vorgestellt, darin sei eine eigene kleine Welt versteckt, mit einer Stadt und winzigen Einwohnern. Genauso wie in „Der Grinch“, dem Kinderbuch von Dr. Seuss. Darin verbarg sich die Stadt Whoville in einer Schneeflocke. Manchmal hatte ich mir sogar eingebildet, leise Stimmen daraus zu hören. Kleine, lustige Stimmen aus Whoville . Kinderfantasien, die mir heute ziemlich absurd vorkamen. Einige Jahre später bin ich der Kiste dann doch noch auf den Leib gerückt, als ich endlich in der Lage war, Vaters Werkzeug aus der Garage zu benutzen. Ich hatte alles versucht: mit der Zange, mit dem Schraubenzieher, sogar mit einer kleinen Multifunktions-Bohrmaschine, aber das Kästchen hatte standgehalten. Es war aus einem so harten Metall, dass es den Bohrer augenblicklich
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