Post Mortem
hoch. Rick ist knapp über eins achtzig, aber manchmal sieht er genauso groß aus wie der »Große«, weil er sich gerade hält und nie mehr als fünfundsiebzig Kilo wiegt.
Heute bemerkte ich zum ersten Mal, dass er ein wenig gebückt ging.
»Was bringt dich hierher?«, fragte er.
»Ich bin vorbeigekommen, um dich zu sprechen.«
»Mich? Was ist los?«
»Patty Bigelow.«
»Patty«, sagte er und warf einen Blick auf das Ausgangsschild. »Ich könnte einen Kaffee vertragen.«
Wir gössen uns zwei Becher aus der Ärztekanne ein und gingen in einen leeren Untersuchungsraum, der nach Alkohol und Methan roch. Rick setzte sich in den Ärztesessel, und ich hockte mich auf den Tisch.
Er bemerkte, dass die Papierrolle auf dem Tisch gewechselt werden musste, sagte: »Steh mal 'nen Moment auf«, und riss sie ab. Er knüllte das Papier zusammen, warf es weg und wusch sich noch einmal die Hände. »Dann hat Tanya dich also doch angerufen. Zum letzten Mal gesehen hab ich sie ein paar Tage nach Pattys Tod. Sie brauchte Hilfe, um an Pattys Sachen ranzukommen, weil sie Schwierigkeiten mit der Krankenhausbürokratie hatte, aber auch nachdem ich ihr damit geholfen hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie über irgendwas reden wollte. Als ich sie fragte, obes noch etwas gäbe, sagte sie nein. Dann rief sie etwa eine Woche später an und fragte, ob du immer noch praktizierst oder ob du ausschließlich für die Polizei arbeiten würdest. Ich hab ihr gesagt, soweit ich wüsste, wärst du für ehemalige Patienten jederzeit verfügbar. Sie dankte mir, aber ich hatte wieder das Gefühl, dass sie mit irgendwas hinter dem Berg hielt. Ich hab dir nichts davon gesagt für den Fall, dass -ye sich gar nicht bei dir meldet. Ich bin froh, dass sie es getan hat. Armes Mädchen.«
»Was für einen Krebs hatte Patty?«, fragte ich.
»Bauchspeicheldrüse. Als sie die Diagnose bekam, war ihre Leber bereits zerfressen. Zwei Wochen vorher fiel mir auf, dass sie erschöpft aussah, aber Patty auf zwei Zylindern war besser als die meisten anderen auf voller Kraft.« Er blinzelte. »Als ich sah, dass ihre Augen sich gelb verfärbt hatten, bestand ich darauf, dass sie sich untersuchen ließ. Drei Wochen später war sie tot.«
»Oh Mann.«
»Nazikriegsverbrecher werden neunzig, und sie stirbt.« Er massierte eine Hand mit der anderen. »In meinen Augen war Patty immer eine dieser Siedlerfrauen, die vor nichts und niemandem Angst hatten, einen Bison oder was auch immer jagen konnten, ihm das Fell abziehen, ihn schlachten, braten und das, was übrig blieb, in brauchbare Gegenstände verwandeln konnten.« Er zog ein Augenlid herunter. »Ich habe all die Jahre mit ihr gearbeitet und konnte nicht das Geringste tun, um das Ergebnis zu beeinflussen. Ich habe ihr die beste Onkologin verschafft, die ich kenne, und dafür gesorgt, dass Joe Michelle - unser Chefanästhesist - sich persönlich um ihre Schmerzen kümmerte.«
»Hast du zum Schluss viel Zeit mit ihr verbracht?«
»Nicht so viel, wie angebracht gewesen wäre«, sagte er. »Wenn ich in ihr Zimmer kam, haben wir ein bisschen geplaudert, und dann hat sie mich rausgeworfen. Ich hab ihrwidersprochen, um festzustellen, ob sie es ernst meinte. Sie meinte es ernst.« Er zupfte an seinem Schnurrbart. »In all diesen Jahren war sie meine wichtigste OP-Schwester, aber unsere gesellschaftlichen Kontakte beschränkten sich auf die gelegentliche Tasse Kaffee in der Kantine, Alex. Als ich die Station übernahm, war ich in der Hinsicht ein Trottel: erst die Arbeit und dann kein Vergnügen. Meine Mitarbeiter haben es geschafft, mir zu zeigen, wie falsch ich damit lag, und meine sozialen Fähigkeiten wurden wachgekitzelt. Betriebsfeiern wurden veranstaltet, ich legte eine Liste mit den Geburtstagen der Leute an, sorgte dafür, dass Kuchen und Blumen da waren, all die Dinge, die gut fürs Arbeitsklima sind.« Er lächelte. »In einem Jahr hat der Große sich bereit erklärt, auf der Weihnachtsfeier Santa Claus zu spielen.«
»Was für ein schöner Gedanke.«
»Ho, ho, ho, brummel, brummel. Gott sei Dank gab es keine Kinder, die auf seinen Schoß wollten. Worauf ich hinauswollte, Alex, ist, dass Patty nicht auf dieser Feier war und auch auf keiner anderen. Sie ist immer direkt nach Hause, wenn sie mit den Krankenblättern fertig war. Als ich versuchte, sie zum Bleiben zu überreden, hieß es: ›Ich würde gerne, Richard, aber ich werde zu Hause gebraucht.«* »Die Verantwortung einer allein erziehenden
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