Fremdes Licht
1
»Ein männliches Exemplar«, sagte der Ged. »Vom
dritten Tor.«
»Was macht es?«
»Es schlägt unentwegt gegen die Wand, weil es
eingesperrt ist.«
»Schon«, sagte der zweite Ged in der lakonischen Art
eines neutralen Beobachters. Die beiden starrten auf den Wandschirm,
der einen kleinen, hell erleuchteten grauen Raum ohne Fenster zeigte,
in dem ein Menschenwesen mit den Fäusten gegen die Wand
hämmerte. Vor der schmerzhaften Helligkeit kniff auch der zweite
Ged das zentrale Auge zusammen, das so hoch auf der Stirn saß,
daß sein Blickfeld bis zum Zenit der Decke reichte. In seine
Pheromone mengte sich ein Anflug von Unbehagen, und der erste Ged,
dessen Pheromone Mitgefühl signalisierten, rückte
näher an ihn heran.
»Wie viele sind bis jetzt gekommen?«
»Fünfhundertsiebzig. Dreißig lassen wir noch
herein«, sagte der zweite Ged, obwohl der andere das längst
wußte; deshalb hatte er gefragt. Beide redeten leise, vage
brummend, fast unflektiert. Einen Moment lang mischte sich
Müdigkeit in die Pheromone des ersten, und bei dem anderen wurde
der Duft nach Mitgefühl intensiver.
»Das da?«
»Wahrscheinlich nicht. Wenn es seine blinde Angst besiegt und
wieder zu Verstand kommt, vielleicht. Doch es hat nicht mal den
Edelstein genommen. Vorerst scheint es nur den Wunsch zu haben, sich
und der Wand Gewalt anzutun.«
Das Menschenwesen, das den schmutziggrauen Tebel eines jelitischen
Bürgers trug, sank auf den Boden und rollte sich zu einem engen,
bebenden Bündel zusammen. Die Geds beobachteten es und hielten
aus Rücksicht voreinander die strengen Pheromone des Abscheus
zurück. Der Raum, in dem sie standen, innerhalb der
Doppelwandung, die die leere und wartende ›Stadt‹
umschloß, wurde vom trüben orangeroten Schein der Gedsonne
erhellt; er roch nach der guten, methanreichen Luft auf Ged; die
Temperatur entsprach ganz der Ernsthaftigkeit dieses Gedprojektes.
Aber sie befanden sich nicht auf Ged, und sie hatten Heimweh. Sie
wären viel lieber auf Ged gewesen oder irgendwo bei der Flotte,
hätte man sie hier nicht gebraucht. Beide rochen sie das Heimweh
des anderen, ein Pheromon unter vielen, doch sie schwiegen dazu. Es
war nicht nötig, darüber zu reden. Alle achtzehn Geds
innerhalb der Doppelwandung rochen so.
Der erste Ged schaltete den Wandschirm ab, und unter den normalen
Lichtverhältnissen öffneten beide wieder ihr zentrales
Stirnauge. Obwohl sich dieses Auge angesichts riesiger Raubtiere
entwickelt hatte, die seit Jahrmillionen ausgestorben waren, war den
Geds unbehaglich zumute, wenn es geschlossen war. Ein Gedgesicht
– seitensymmetrisch, haarlos und, wenn man von dem betreffenden
Auge und einem Mangel an subkutaner Muskulatur absah, durchaus
humanoid – zeigte keinerlei Regung. Das zu begreifen, war den
Geds im Laufe des Jahres, in dem sie die Menschenwesen draußen
vor den Toren beobachtet hatten, am schwersten gefallen: daß
nämlich die grotesken Verzerrungen der menschlichen
Gesichtsmuskulatur Informationsträger waren. Damit hatte sich
sogar das Bibliothekshirn schwergetan; dieses Repertoire an
Verzerrungen zu verstehen, hatte weit mehr Zeit gekostet als die
Entschlüsselung der verbalen Sprache. Die Geds hatten nicht mit
einer differenzierten Pheromonik gerechnet, aber genausowenig hatten
sie eine differenzierte Spastik erwartet. Man war noch keiner
denkenden Rasse begegnet, die Informationen durch Muskelkrämpfe
austauschte.
Nicht der erste verblüffende Unterschied.
»Signifikante Daten«, grollte das Bibliothekshirn mit
samtweicher Stimme. Die beiden Geds spitzten die Ohren.
»Signifikante Daten, Ebene Drei. Die Biologie bestätigt,
daß alle Menschenwesen tatsächlich zu ein und derselben
Spezies gehören. Der zentrale Widerspruch ist nicht durch
ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Spezies zu lösen.«
Das Bibliothekshirn intonierte den letzten Satz in der lakonischen
Art einer unumstößlichen Feststellung.
Der erste Ged summte verärgert. Der andere strich seinem
Gefährten freundlich über Rücken und Beine und
verströmte dabei tröstende Pheromone.
»Das hätte zumindest erklärt, warum sie
gegeneinander gewalttätig sind!« sagte der erste Ged.
»Ja. In uns singt die Harmonie.«
»In uns singt die Harmonie.«
»Möge sie immer singen.«
»Sie wird auf immer singen. Wir sind der Antwort keinen
Schritt nähergekommen, Grax.«
»Nein. Vielleicht wenn die Menschenwesen in die
›Stadt‹ kommen.«
Der erste Ged warf einen Blick auf den blinden
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