Power Down - Zielscheibe USA (German Edition)
wusste, dass sie einen damit zurechtstutzen wollten. Um das zu kapieren, brauchte man kein Genie zu sein. Noch nie hatte ein Delta den Spießrutenlauf überstanden. Damit wollten sie einem beibringen, dass es – ganz egal für wie schlau oder zäh man sich hielt – immer noch so etwas wie eine Übermacht gab. Aber nur, weil sich jede Wahrscheinlichkeitsrechnung gegen einen verschwor, hieß das noch lange nicht, dass man einen Delta davon überzeugen konnte, dass er keine Chance hatte.
An jenem Tag sprang Dewey aus einem niedrig fliegenden Hubschrauber ab und landete dicht am Wipfel einer riesigen Kiefer, an deren Stamm er zum Waldboden hinunterkletterte. Zu Fuß folgte er keineswegs allen anderen, sondern machte sich exakt in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg, über Mount Greeley durch die dichten, unbesiedelten Nadelwälder mitten im Nirgendwo von North Carolina. Bragg lag im Westen; also ging er nach Osten. Abgesehen von einer 15-minütigen Pause, um sich auszuruhen, blieb er die ganze Nacht hindurch in Bewegung.
Kurz nach Sonnenaufgang trat er durch eine dicht stehende Baumgruppe und fand sich am Rand eines sauber abgemähten Felds wieder. Er ging zum Farmhaus und fragte den ergrauten Besitzer, ob er ihn wohl nach Bragg fahren könnte. Der Farmer, der kaum ein Wort sprach, brachte Dewey die gut 160 Kilometer zurück zum Fort. Als Dewey eintraf, war die Truppe vollkommen überrascht. Alle anderen hatten sie innerhalb der ersten sechs Stunden geschnappt. Einige hielten Dewey bereits für tot.
Dewey galt seitdem als Legende: der einzige Delta, der den Spießrutenlauf je überstanden hatte.
Ein paar engstirnige Mistkerle vertraten die Meinung, er habe gegen die Regeln verstoßen, aber das war genau der Punkt: Im Krieg gab es keine festen Regeln. Das Messer hatten ihm seine Kameraden aus der Rekrutenklasse als Zeichen ihres Respekts für den Einzigen, der durchgekommen war, geschenkt.
Dewey ging nicht auf Pierres Frage ein. »Gehen wir da raus und bereiten dem Ganzen ein Ende!«
Pierre schnallte das Messer an seinen Gürtel und wandte sich ab, um zu gehen.
»Hat Serine irgendwelche Freunde, denen du vertraust?«, fragte Dewey, während er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte.
»Nein«, antwortete Pierre. »Das sind alles Ratten.«
»Nicht einen?«
»Na ja, einen vielleicht, Esco. Er ist schon ʼne Weile hier.«
»Esco, gute Idee.«
»Was passiert jetzt mit Serine?«, wollte Pierre wissen. »Warst du bei ihm?«
»Er ist ein zäher Bursche«, sagte Dewey. »Der Hubschrauber ist hierher unterwegs, um ihn ins Krankenhaus nach Buenaventura zu bringen.«
Dewey ging wieder an Deck und sprach mit jedem seiner Vorarbeiter einzeln, ermahnte sie, die Männer hart arbeiten zu lassen, sie heute richtig auszupowern und die Augen nach weiteren Schlägereien offen zu halten.
Er kehrte in die Krankenstation zurück und fand Serine erneut bewusstlos vor.
»Dauert es noch lange, bis der Hubschrauber eintrifft?«, wollte Dewey wissen.
»Bald«, meinte Barbo. »Höchstens eine halbe Stunde.«
»Wenn er da ist, helfe ich dir, Serine zum Landeplatz zu tragen.«
Dewey ging ins Büro zurück und setzte sich an seinen Computer. Er lehnte sich nach vorne und vergrub das Gesicht in den Händen. Er überlegte, ob er eine E-Mail nach Dallas schicken sollte, doch wer wusste schon, auf welche Ideen die Zentrale kam, wenn er berichtete, was letzte Nacht geschehen war. Die Behörden einschalten, vielleicht sogar Capitana stilllegen – für ein paar Tage, eine Woche, einen Monat? Wegen eines Todesfalls infolge einer Schlägerei, eines sinnlosen Streits zwischen zwei leicht zu ersetzenden Arbeitern in internationalen Gewässern in der Mitte von Nirgendwo? Nein, Dewey musste erst einmal die Füße stillhalten und das Feuer selbst löschen.
Mackies Worte gingen ihm durch den Sinn. Pierre hatte recht. Er würde mit Esco reden. Unter den Raubeinen an Bord galt er als so etwas wie ein Veteran. Um die 40, alt für jemanden, der auf einer Bohrinsel arbeitete. Seit fast fünf Jahren befand er sich hier auf Capitana. Ein angenehmer, gemütlicher Zeitgenosse, der mit jedem zurechtkam. Wenn jemand helfen konnte, dass Serines Kumpel nicht aus der Reihe tanzten, dann Esco.
Unterdessen musste Dewey dafür sorgen, dass Mackies Freunde sich ruhig verhielten. Sie wirkten aufgebracht und wollten wahrscheinlich Rache. Haig könnte möglicherweise helfen, den Frieden zu wahren, überlegte Dewey. Er nahm sich vor, mit ihm und Esco zu reden,
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