PR TB 086 Feldzug Der Morder
Kinder, Atlan?«
Ich lächelte schmerzlich.
»Vielleicht. Einen Sohn - ich weiß es nicht. Er ist
längst tot.«
Sie schob unschlüssig den Pokal hin und her und einige
Weintropfen liefen über ihre Finger. Erst jetzt sah ich drei
kostbare, goldene Ringe mit großen Rubinen und Smaragden daran.
»Keine Brüder? Keine Schwestern?«
»Keine«, gestand ich.
Sie seufzte voller Mitgefühl.
»Was werden wir morgen tun? Heute müssen wir schlafen
und uns ausruhen; wir sind müde. Und morgen?«
»Patricia«, sagte ich leise, »ich weiß es
nicht. Du solltest zurück zu deinen Eltern und in deine Stadt
gehen.«
»Die Stadt ist überfallen und zerstört. Ich habe
keine Eltern mehr. Die Hunnen haben sie.«
Über uns war ein Rauschen, als ob etwas durch die Blätter
des Baumes fiel. Die Nachmittagsluft nahm allmählich eine
ungewöhnliche Klarheit an. Der Jagdfalke landete auf dem Tisch
und stolzierte leichtfüßig heran. Das Mädchen war
aufgesprungen und riß einen Dolch aus der Tischplatte heraus.
Ich hob die Hand, deutete auf den Vögel und sagte beruhigend:
»Es ist mein Vogel. Er beschützt mich. Was hast du
gesehen, Turk?«
Der Vogel öffnete den gekrümmten Schnabel und keuchte:
»Nichts. Keine Menschen, keine Hunnen. Ihr seid sicher.«
Während er sprach, beobachtete ich Patricia. Ihre Augen waren
aufgerissen und sie blickte zwischen mir und dem Vogel hin und her.
Für sie stand es nunmehr fest, daß ich ein mächtiger
Zauberer war. Ein sprechender Jagdfalke. es war ein Wunder. Ich
entfernte bedächtig einige Blätter von den Schwingen des
Vogels und ordnete dann an:
»Gehe hinauf in große Höhe und warne mich sofort,
wenn Hunnen zu sehen sind.«
Der Vogel spreizte seine Schwingen, stieg fast bewegungslos höher
und schwebte dann wie ein Blatt, das der Wind mit sich riß,
schräg aufwärts. Sekunden später war er nur noch ein
Punkt im stählernen Blau des Himmels. Die Hitze nahm zu. Auf den
Feldern reifte das Getreide. Dies war der sechste Tag meiner Reise,
seit ich den Gleiter versteckt und mich auf den Ritt nach Osten
gemacht hatte. Denn um Attila zu vernichten, mußte ich ihn
genau kennenlernen. Vielleicht verstand ich dann mehr von seiner
besessenen Kampfeslust. Wollte ich ihn aber kennenlernen, mußte
ich sein Vertrauen besitzen. Das ließ sich aber nur erreichen,
wenn ich mich ihm langsam und behutsam näherte. Er beherrschte
dieses Gebiet und ich war der Fremde. Alles Fremde aber war den
Nomaden unheimlich und machte sie mißtrauisch.
»Ich weiß es nicht, was wir morgen beginnen«,
sagte ich nach einer Weile. »Hast du einen Vorschlag?«
Patricia hob die Schultern und sagte:
»Nein. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich bin
allein.«
Ich dachte an das, was mir bevorstand, wenn mein Plan Erfolg haben
sollte
- und schon allein wegen der Menschen dieses Kontinents mußte
ich mehr
als nur Erfolg haben -, und ich wußte nicht, ob ich es
riskieren konnte, das Mädchen mitzunehmen. Es wäre für
uns beide das Beste, dachte ich, aber Patricia war erstens selbst im
höchsten Maß gefährdet und zweitens eine Gefahr für
mich, denn sie hielt mich auf und zwang mich, Rücksicht zu
nehmen. Ich beugte mich ein wenig vor und fragte:
»Kannst du reiten?«
»Wie ein Hunne!« sagte sie.
»Es wird Schwierigkeiten geben, wenn wir weiter nach Osten
reiten. Ich kann dir nur meinen Schutz geben, nicht mehr. Gegen eine
Übermacht bin auch ich wehrlos.«
Sie sagte in kühlem Ton:
»Du willst die angenehmen Dinge, aber du willst keine
Verantwortung übernehmen. Ist es so?«
Ich faßte ihre Hand und zog das Mädchen über den
Tisch zu mir heran. Unsere Gesichter waren nur noch Handbreiten
voneinander entfernt. Dann sagte ich leise und beschwörend:
»Ich habe die Verantwortung für ein riesiges Land mit
unzählbar vielen Tausenden Menschen übernommen. Ich
versuche, sie vor den Hunnen und vor der Zerstörung zu retten.
Und du sprichst von Verantwortung? Kein Mensch kann heute und in
diesem Teil der Welt für sein eigenes Leben garantieren, und ich
kann auch nicht für dein Leben Versprechungen machen. Ich werde
tun, was ich kann, aber ich bin kein Gott.«
»Ich reite mit dir, morgen«, sagte sie flüsternd.
Ich stand auf. Ich ging hinüber zur Scheune, nahm den Tieren
die Sättel ab und striegelte die Pferde, untersuchte ihre Hufe
und versorgte einige aufgeriebene Stellen an ihren Rücken. Dann
breitete ich Heu in einem dunklen Teil des Stalles aus, legte Decken
darüber und schaffte meine
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