Prime Time
Agenturmeldung?«
Der Fotograf zeigte auf einen dünnen Stapel Papier zu ihren Füßen.
»Das wird nicht leicht werden, wo alle unsere Reporter über den ganzen Erdball verteilt sind. Verdammtes Glück, dass wenigstens Wennergren schon vor Ort war.«
Sie streckte sich nach den Papieren aus, der Gurt, den sie gerade angelegt hatte, gab nicht ausreichend nach. Ärgerlich schnallte sie sich wieder ab.
»Aha«, gab sie zurück. »Und was meinst du damit? Bin ich hier auf dem Beifahrersitz völlig durchsichtig, oder was?«
Der Fotograf schielte zu ihr hinüber.
»Es ist doch zu dumm, dass wir für so etwas keinen Bereitschaftsdienst haben. Typisch. Schlechte Planung, keine Voraussicht. Schyman sollte sich mal lieber um so etwas kümmern, als andauernd mit Torstensson zu streiten. Schnall dich wieder an.«
Annika hatte keine Lust, sich um die Streitigkeiten des Redaktionsleiters mit dem Chefredakteur zu kümmern. Sie schnallte sich wieder an und schloss die Augen. Die Machtlosigkeit und die Sehnsucht nach ihren Kindern brannten ihr in den Eingeweiden.
Jetzt bekam ihre Schwiegermutter noch mehr Wasser auf ihre Mühlen. Der arme Thomas, wie hatte ihrem Sohn so etwas nur passieren können?
Sie zwang sich auszuatmen, riss die Augen auf und las die Ausdrucke der Agenturmeldungen. Es waren fünf Stück, die im Abstand von wenigen Minuten rausgegangen waren.
»Flash 09:41: Fernsehjournalistin Michelle Carlsson tot aufgefunden. 09:42: Michelle Carlsson durch Schuss in den Kopf getötet. 09:43: Michelle Carlsson in einem Ü-Wagen vor dem Schloss von Yxtaholm gefunden. Eine Waffe neben dem Opfer. 09:44: Polizei: Michelle Carlsson wurde wahrscheinlich ermordet. 09:45: Mehrere Personen zum Mord an Michelle Carlsson verhört.«
»Die haben eine Reihe von Sendungen aufgezeichnet, die nächste Woche laufen sollten«, sagte Bertil Strand.
»›Das Sommerschloss‹«, erwiderte Annika. »Meine Freundin Anne Snapphane arbeitet seit März an der Produktion …«
Sie schwieg und starrte den Regentropfen nach, die an den Seitenscheiben herabrannen. Bäche, die zusammenflossen und sich wieder teilten, unausweichlich nach hinten gedrückt wurden, bis sie auf die Chromleiste der Beifahrertür trafen.
Sie erinnerte sich an Annes Wut und Verzweiflung, als sie nach sechs Jahren in der Produktionsfirma auf einmal die Recherche übernehmen sollte und zur Aufnahmeleiterin degradiert worden war und nicht mehr Redakteurin oder Produzentin sein durfte. Dies bedeutete, dass Anna Snapphane am Set bleiben, aufräumen, sich um das Material kümmern und es archivieren musste – kurzum, alle ermüdenden und hirnlosen Arbeiten zu erledigen hatte.
Wahrscheinlich war sie noch irgendwo im Schloss.
Annika drehte sich um und fischte ihren Block und den Stift aus der Tasche auf dem Rücksitz.
»Wer wird denn alles verdächtigt?«
»Keine Ahnung«, sagte Bertil Strand und stöhnte.
Sie hatten jetzt den Essingeleden erreicht, Stockholms rettungslos überlastete Stadtautobahn, wo um diese Zeit natürlich alles stand.
»Das wird ewig dauern«, sagte Strand und kuppelte aus.
Annika konnte sich nicht beherrschen.
»Was hast du denn erwartet?«, fragte sie »Es ist schließlich Mittsommer.«
Der Fotograf schaltete die Lüftung im Auto aus. Die Scheiben beschlugen sofort wieder. Die Scheibenwischer bewegten sich in einem regelmäßigen Rhythmus, der linke quietschte jedes Mal, wenn er den höchsten Punkt der Windschutzscheibe erreichte. Annika schloss die Augen und versuchte, die Stimme von Thomas und das Gefühl des Scheiterns zu verdrängen. Sie konzentrierte sich auf den Regen, die Scheibenwischer und das asthmatische Keuchen der Umluftanlage.
Das Sommerschloss, dachte sie. Die große Familiensendung von TV-Plus. Talk und Unterhaltung, Gäste und Künstler. Das Comeback von Michelle Carlsson zur Prime Time, die Revanche des Fernsehstars. Eigentlich war sie gar nicht so schlecht, dachte Annika.
»Wie fandest du Michelle?«, fragte sie.
Bertil Strand drehte den Kopf, als säße der auf einem Kugellager. Er suchte nach einer Lücke im Verkehr.
»Geschwätzig«, sagte er. »Unglaubwürdig. Das Kinderprogramm und die Quizsendungen, die sie gemacht hat, waren okay, aber diese Talkgeschichte, die sie dann probiert hat, war wirklich nichts Besonderes. Die konnte doch nichts.«
Annika war erstaunt über den Protest, der sich in ihr regte.
»Von wegen«, sagte sie. »Michelle hat zehn Jahre bei Radio und Fernsehen gearbeitet. Da muss sie ja wohl
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