Prime Time
irgendwas gelernt haben.«
»In die Kamera zu lächeln«, sagte Bertil Strand. »Das kann ja nicht so schwer sein.«
Annika schüttelte den Kopf, wollte protestieren. Dabei hatte sie selbst oft die gleichen Argumente vorgebracht, wenn sie mit Anne Snapphane über Journalismus diskutiert hatte.
»Meine beste Freundin arbeitet jetzt seit sechs Jahren beim Fernsehen«, erwiderte sie. »Das ist viel komplexer, als man denkt.«
Bertil Strand schob sich unmittelbar vor einem dampfenden Landrover in die Spur. Der Fahrer legte sich auf die Hupe.
»Scheint ein furchtbarer Job zu sein«, meinte der Fotograf.
»Massenhaft Technik, die nie funktioniert, und ein Haufen Idioten, die herumrennen und sich wichtig machen.«
»Ungefähr so wie beim
Abendblatt
«, sagte Annika, sah wieder aus dem Fenster und biss die Zähne zusammen. Der Typ in dem Landrover zeigte ihr den Stinkefinger.
Was mache ich hier eigentlich? Ich sitze mit einem aufgeblasenen Idioten von Fotograf da, unterwegs, um über ein sinnloses Gewaltverbrechen zu berichten, und dafür lasse ich Thomas und die Kinder allein, die doch das Einzige sind, was wirklich etwas bedeutet. Ich muss verrückt sein.
Sie roch an ihren Händen und konnte immer noch den Duft von Kalles Haaren und Ellens Tränen wahrnehmen. Es schnürte ihr die Kehle zusammen. Sie drehte sich um und nahm das Handy und ein Stück Küchenrolle aus der Tasche und trocknete sich die Hände.
»Da ist eine Lücke«, rief Bertil Strand und gab Gas.
Annika wählte die Nummer.
Die Polizei hatte alle angewiesen, die Handys abzustellen.
Anne Snapphane war sicher, die Anweisung befolgt zu haben, weshalb die Vibration in ihrer Jackentasche sie wie ein kleiner Schock traf. Sie setzte sich schnell im Bett auf.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie merkte, dass sie eingeschlafen sein musste.
Das Telefon surrte wie ein gigantisches Insekt in der Innentasche ihrer Regenjacke. Sie strich sich verwirrt die Haare aus dem Gesicht. Auf ihrer Zunge lag ein Geschmack von Schimmel. Dann löste sie sich aus dem Chaos aus Daunendecke, Zierkissen und Überwurf und holte das Handy heraus. Misstrauisch sah sie auf das Display. Es wurde keine Nummer angezeigt. Sie zögerte. Was sollte das? Stellte man sie auf die Probe?
Sie drückte den Knopf und flüsterte vorsichtig:
»Hallo?«
»Wie geht es dir?«, hörte sie die Stimme von Annika Bengtzon sagen. Sie klang weit weg, und es knisterte in der Leitung. »Lebst du noch?«
Anne Snapphane schluchzte auf, legte die Hand auf die Augen und presste die Finger gegen den Schmerz im Kopf.
»Gerade noch«, wisperte sie.
»Wir haben das von Michelle gehört«, sagte ihre Freundin.
Sie sprach langsamer als sonst. »Wir sind schon auf dem Weg. Kannst du reden?«
Sie fing an zu weinen, leise und still, die salzigen Tränen rannen ins Mikrofon des Telefons.
»Ich glaube schon.«
Die Antwort war ein Keuchen.
»… nur so ein verdammter Stau … du jetzt da draußen?«
Die Leitung wurde immer wieder unterbrochen, Rauschen und Regen, Annikas Stimme in Fetzen. Anne Snapphane holte tief Luft und spürte, dass sich ihr Puls beruhigte.
»Ich bin in meinem Zimmer im Südflügel eingesperrt. Wir haben alle Hausarrest, wahrscheinlich werden sie uns einen nach dem anderen verhören.«
»Was ist denn passiert?«
Anne wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, hielt mit der anderen Hand das Handy umklammert und presste es gegen das Ohr. Sie wollte diese Rettungsleine auf keinen Fall verlieren. »Michelle«, flüsterte sie. »Michelle ist tot. Sie lag im Ü-Wagen, vom Hinterkopf war nichts mehr übrig.«
»Sind viele Bullen da?«
Annes Herz schlug ruhiger, fast wieder normal. Annikas Stimme verkörperte für sie Wirklichkeit und Alltag. Anne Snapphane richtete sich mit weichen Knien auf und sah aus dem Fenster.
»Von hier aus kann ich nicht viel sehen. Eine geschwungene Brücke über einen Kanal und ein paar Zielscheiben fürs Bogenschießen. Ich habe einige Autos gehört, und vor einer Weile ist ein Hubschrauber gelandet.«
»Hast du sie gesehen?«
Anne Snapphane schloss die Augen und drückte sich fest auf die Nasenwurzel. Vor Aufregung flackerten die Bilder in ihrem Inneren.
»Ich habe sie gesehen. Ich habe sie gesehen …«
»Wer hat es getan?«
Es klopfte. Anne erstarrte und sah wie gelähmt zur Tür. Die Rettungsleine wurde gekappt, sie fiel wieder in die Verwirrung zurück.
»Ich muss auflegen«, flüsterte sie und drückte das Gespräch weg. »Anne
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