Prisma
gibt es noch viel mehr davon, was wir im Augenblick nur nicht sehen können«, meinte Azur, »weil es unter der Oberfläche verborgen ist.«
Worte, die zu analysieren es schon zu spät war, als sie ausgesprochen wurden, denn sie lieferten den Beweis, auf den die Sucher gut und gern verzichtet hätten. Acht mächtige Silikattentakel brachen durch das Erdreich unter ihnen. Jede endete in kräftigen hellorangefarbenen Fingern, die sich öffneten und schlossen, Zugriffen.
Der Bibliothekar und die Ärzte stiegen in Netzen aus orangefarbenen Fasern hoch, während die drei Krieger derart festgeklemmt wurden, dass sie nicht einmal die Zähne einsetzen konnten. Evan versuchte wegzulaufen, wurde von einer Wolke klebriger weißer Fasern eingehüllt, die am Ende eines Tentakel hingen. Der weiche unzerreißbare Filz kitzelte, aber er lachte nicht. Er fühlte sich ins Tal hinuntergezogen, trat wild um sich und schrie seinen Gefährten Warnungen zu.
Sie waren so hilflos wie Ameisen in den Händen eines Riesen, eines Riesen, der das gesamte Tal ausfüllte.
»Aufgenommen!« schrie der Bibliothekar ihnen zu, während er sich gegen die umschlingenden Gliedmaßen wehrte. Hieß das tot oder lebendig?
Sie sollten es erfahren. Eine Klappe an der oberen Flanke des Monsters öffnete sich in Erwartung ihrer Ankunft. Es waren keine Zähne zu sehen, und die Öffnung wirkte mehr als Tür denn als Mund. Meterlange Zilien erfassten ihn, als der orangefarbene Tentakel ihn losließ und sich zurückzog. Einer nach dem anderen gesellten seine Freunde sich drinnen zu ihm.
Die äußere Klappe schloss sich, und die Decke senkte sich herab. Evan wehrte sich verzweifelt. Ersticken war eine besonders unangenehme Todesart. Der dünne Fleischlappen drückte nach unten – und Riss und glitt an ihm und seinen Freunden herab. Er verharrte in Hüfthöhe und verurteilte ihn zur Reglosigkeit. Wie eine Biene, die in einem Eimer schwamm, tauchte ein faustgroßes gelbschwarzes Auge aus dem Schleim auf und starrte ihn kurz an, ehe es weiterwanderte, um den ersten Arzt zu inspizieren.
Evan stemmte sich gegen das ihn umgebende Material. Es verhärtete sich bereits und hielt ihn fest. Von unten näherte sich eine kleine Welle gelben Schleims, der wie zum Hohn der Schwerkraft aufwärtsfloß. Er erreichte ihn und kroch ihm an den Seiten herauf und wurde beim Vordringen allmählich hart.
Seine Freunde waren ähnlich gefangen. Wenn es so weiterging, dann wären sie alle bis zum Abend völlig eingeschlossen. Dank seiner Körpergröße würde Evan vielleicht noch einen Tag durchhalten können. Er spürte bereits im voraus, wie ihm das ekelhafte Zeug übers Kinn kroch, zuerst den Mund bedeckte, dann die Nasenlöcher verstopfte, ihm die Luft abschnitt und die Lungen zum Platzen brachte.
Es blieb nun keine Zeit des geruhsamen Nachdenkens mehr. Dünne wächserne Ranken tauchten aus der fließenden Masse auf und versuchten, seinen Brustkorb abzutasten, ihn zu umwickeln. Mit Armen und Händen riss er die Ranken ab, bis ihn von hinten etwas niederschlug…
Die Nacht war hereingebrochen, als er wieder zu sich kam. Das Licht der mehreren Monde Prismas warf einen silbrigen Schein auf die sich aufwerfende, niemals ruhige Oberfläche, von der er nun ein Teil war. Beide Arme waren jetzt an den Brustkorb gefesselt und der gelbe Sirup hatte das Brustbein erreicht.
Er war sich der einzelnen Ranke überaus bewusst, die sich an der Schulter hinauf und in das linke Ohr geschlängelt hatte. Wieder einmal wurde er eingestöpselt, doch diesmal erfolgte die Verbindung gegen seinen Willen.
Undeutliche Silhouetten waren rechts von ihm zu erkennen: alles, was von den eingeschlossenen Gefährten übriggeblieben war. Am nächsten Tag um diese Zeit wäre er ebenfalls verschwunden. Er konnte den Bibliothekar und Azur unter der Schicht halbdurchsichtigen Materials deutlich erkennen. Da sie nicht atmeten, waren sie sicher noch am Leben. Er konnte nicht entscheiden, ob er sie beneiden sollte oder nicht.
Schreien hätte keinen Sinn. Er hatte auf dieser Welt bereits genug geschrien. Er brachte sogar ein verstohlenes freudloses Grinsen zustande. Da war er nun den ganzen weiten Weg hergekommen, um Martine Ophemert zu suchen, und nun, da er sie gefunden hatte, durfte er nicht zurückkehren. Sie sollten verbunden werden, wie Hunderte von anderen Bewohnern Prismas verbunden worden waren: zu einer widerwärtigen und abstoßenden Einheit.
Er hatte Dutzende von Lichtjahren zurückgelegt, um als Teil einer
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