Prisma
Ich fürchte, sie ist den Weg allen Fleisches gegangen.«
»So etwas habe ich noch nie im Leben gesehen.« Ein bedeutendes Geständnis des Bibliothekars, der trotz allem die Quelle allen Wissens war, das die Angehörigen der Assoziation jemals zusammengetragen hatten. Nicht damit zufrieden, nur eine tiefsinnige Erkenntnis von sich gegeben zu haben, fügte er gleich eine zweite hinzu:
»Ich glaube, wir sollten von hier verschwinden.«
Evan starrte ins Tal. Es war vollkommen bar jeglichen Silikaten und organosilikaten Lebens. Dort war kein Platz dafür, denn das Tal war bereits besetzt – von einem einzigen gigantischen, sich ständig verändernden Organismus.
Es war ein verrücktes Gewirr von fraktalen Formen und Projektionen, asymmetrisch wie eine zerklüftete Meeresküste. Selbst Evans neu eingerichtete Augen konnten kein einheitliches Muster erkennen. Es war eine unkontrollierte Explosion von verrückt spielendem Leben, das sich teilte und zusammenfügte, um – während sie noch hinschauten – neue Kombinationen und Formen zu bilden. Antennen schossen an unerwarteten Stellen in die Höhe, wuchsen aus halbtierischen, halbleblosen Wülsten empor. Jede Art von Gliedmaßen tasteten auf der Suche nach Halt auf dem Boden herum und wühlte sich durch den Teil der Talflora, die noch nicht verdrängt worden war: Tentakeln und Hände, Zilien und Klauen. Organische Augen kämpften mit Silikatlinsen um Raum, um die Sehfähigkeit optimal zu entfalten.
Rote Kugeln hingen in aufgeblähten Bündeln von den Flanken dieser Erscheinung wie blutige Gassäcke herab. Ein Teil, der mit feinen blauen und grünen Streifen verziert war, endete jäh, wo sich ein roter sechseckiger Rhombus aus dem Rücken des Monstrums hervorwölbte. Der Rhomboid war voll schwarzer Einschlüsse und pulsierte stetig ein und aus wie eine riesige lappige Lunge. Gliedmassen drückten und zogen ohne Rhythmus oder Muster – mit dem Ergebnis, dass die Kreatur eine erhebliche Energiemenge damit verbrauchte, nirgendwohin zu gehen.
»Chaos«, murmelte einer der Ärzte. »Welchem Quell kann solcher Schrecken entsprungen sein? Das ist lebendig gewordener Zufall, entfesselte Willkür. Es ist alles und zugleich nichts.«
»Was ist mit dem Leitstrahl?« Während er hinunterstarrte in das Tal und auf das krebsartig wuchernde Gebilde, befürchtete Evan, die Antwort längst zu kennen.
Azur wies zum Rand dieses pulsierenden Meers von Leben. »Da unten!«
»Deine Freundin ist tot, wie du schon die ganze Zeit befürchtet hast«, meinte der erste Arzt. »Verschlungen zusammen mit Dutzenden anderer unglücklicher Kreaturen.«
»Ja. Sieh dort, die Überreste mehrerer Awariten!« Der Bibliothekar zeigte auf den Rücken der sich wiegenden Masse, die sich um gut dreißig Meter über den Boden des verwüsteten Tals erhob.
»Ja«, gab der Arzt ihm recht, »und dort drüben sind die Überreste von Kotaren und Eviols, die immer noch versuchen, ihre natürliche Funktion auszuüben.«
»Das Ding tut mehr, als seine Beute nur zu absorbieren«, erklärte der Bibliothekar vorsichtig. »Es hält alle Teile am Leben und benutzt sie. Das, so glaube ich, ist die Antwort auf deine frühere Frage. Dies ist keine einzelne Kreatur, sondern es sind Hunderte, alle durch eine einende Macht zusammengeworfen und miteinander verbunden. Aber das Ganze hat keine Ordnung und keinen Sinn, keine Struktur und keine Architektur. Es ist das Chaos, und Chaos ist sein Bauplan.«
»Du meinst, dass einige der Kreaturen, die das Ding aufgenommen hat, immer noch am Leben sind?« Evan versuchte dem Gedankengang des Bibliothekars zu folgen.
»Lebendig vielleicht. Lebendig als Individuen wohl nicht mehr. Vielleicht wurden die Hunderte nicht so sehr konsumiert als vielmehr aufgenommen und nach Gutdünken eingesetzt.«
»Wo ist dann das Wesen, das mit allem angefangen hat, das die Kontrolle innehat – soweit dieses Wesen überhaupt kontrolliert wird?«
»Wer weiß? Es muss sich im Vergleich zu dem, was es mal gewesen war, erheblich verändert haben. Es muss schon tief in dem anarchischen Ich verborgen gewesen sein, zu dem es wurde.« Der Bibliothekar schaute Evan an. »Ich wiederhole, wir sollten diesen Ort verlassen. Es ist wohl offensichtlich, dass deine Freundin nicht mehr am Leben ist. Ihre Überreste müssen, der Position des Leitstrahls nach zu urteilen, der uns hergeführt hat, irgendwo mitten in der Masse liegen. Seht doch, das Gewicht ist so enorm, dass der Boden darunter nachgibt.«
»Vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher