Prophezeiung der Seraphim
nicht. »Weshalb sollte ich fortwollen?«
»Du hast miterlebt, was Kronos mit meinem Bruder gemacht hat. Er kennt keine Gnade, und er würde alles tun, um das Tor zwischen den Welten zu öffnen.« Sie fasste seine Hand und drückte sie.
»Es tut mir leid für deinen Bruder, aber warum glaubst du, dass ich in Gefahr bin?«
»Er spielt nur mit dir«, erwiderte Leda. »Ich glaube, er will dich benutzen, um das Tor zu öffnen.«
Ruben musste lachen. »Ich werde ihm doch freiwillig helfen.«
Leda schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ruben, du verstehst nicht. Du wirst sterben, wenn du ihm hilfst!«
»Leda, du hast sicher etwas falsch verstanden. Kronos ist mein Vater, und schließlich hat er mich eben erst in den Rat aufgenommen.«
Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, und auf einmal wirkte sie gar nicht mehr so zerbrechlich. »Glaubst du, Kronos würde dich schonen, nur weil du sein Sohn bist? Sieh dir an, was er mit Rhea getan hat! Er genießt es, sie jeden Tag aufs Neue zu demütigen.«
Ruben fasste sie an den Schultern. »Rhea? Meine Mutter?«
Leda nickte. Ihre Augen wurden groß. »Du wusstest es nicht? Ich hätte gedacht, der Erzengel würde sich damit vor dir brüsten. Er genießt es, sie so erniedrigt zu sehen.«
»Sie ist hier?« Dieser Gedanke war ihm niemals gekommen, weil Cal ihm erzählt hatte, sie sei weggegangen. Nun wurde ihm klar, wie einfältig er gewesen war.
Leda nickte. »Ihre Seele ist in einem der Seelengläser gefangen, die im Inneren Bereich aufbewahrt werden.«
Ruben hörte Ledas letzte Worte gar nicht mehr. Seine Mutter war hier! Seine Mutter, die ihn geboren hatte und nach der er sich sein ganzes Leben lang gesehnt hatte. Sie hatte ihn nicht verlassen, Cal hatte sie ihm genommen.
»Wo ist sie? Ihr Körper, meine ich«, fragte er.
»Sie ist Kronos’ Dienerin, die mit den hellen Haaren.«
»Was? … Wie kann er nur so grausam sein?«, stieß Ruben aus. Allmählich wurde ihm klar, dass Leda tatsächlich die Wahrheit sagte.
»So bringt er alle zum Schweigen, die seine Pläne anzweifeln«, fuhr sie fort. »Und jetzt hat er Aison dasselbe angetan!« Sie schluch zte erneut und verbarg das Gesicht in ihren Händen.
Hilflos strich er ihr übers Haar und wünschte, er könnte irgendetwas tun, um sie zu beschützen.
»Was hat mein Vater nur vor?«, murmelte er.
»Kronos spricht schon eine ganze Weile über unsere Rückkehr ins Ursprüngliche Reich.« Leda atmete tief ein und wischte sich über die Wangen. »Unsere Chroniken besagen, dass ein Seraph er scheinen wird, der das Tor zwischen den Welten wieder öffnen kann. Wir nennen ihn Andipalos, Herausforderer, weil er Phanes besiegen kann und Herrscher über die Dunklen Scharen werden wird.«
»Und wie soll man diesen Andipalos erkennen?«, fragte Ruben.
»Er wird in Gestalt eines geflügelten Seraphen erscheinen, so lautet die Weissagung.«
»Aber woher? Er kann ja nicht aus dem Nichts auftauchen.«
Leda hob den Kopf. Auf ihren Wimpern glitzerten Tränen, und Ruben musste sich beherrschen, um sie nicht vorsichtig abzustreifen. »Ruben, du bist in Gefahr, und ich möchte nicht, dass dir dasselbe geschieht wie meinem Bruder und deiner Mutter.«
Ruben glaubte, draußen auf dem Gang Schritte zu hören, und senkte seine Stimme. »Wie kann man die gefangenen Seelen befreien?«
Traurig antwortete Leda: »Das kann niemand. Kronos sagt, sie sind bis in alle Ewigkeit in ihre Kugeln gebannt.«
»Es muss einen Weg geben!« Ruben ballte die Fäuste. »Ich werde nicht fliehen, sondern meine Mutter befreien!.«
Die Schritte wurden lauter, Leda fuhr hoch. »Ich muss gehen«, flüsterte sie. »Du könntest dir die Chroniken ansehen, vielleicht findest du darin einen Hinweis. Sie stehen in der Bibliothek.«
»Wenn ich Villeraux irgendwie loswerden kann.« Ruben blickte zur Tür. »Kannst du morgen um dieselbe Zeit wieder herkommen?«
Leda nickte, dann kauerte sie sich zusammen. Wieder flirrte die Luft um sie herum und sie nahm Vogelgestalt an. Ruben hob sie vorsichtig auf und setzte sie auf das Fenstersims. Leda wandte noch einmal den Kopf zu ihm und schwang sich in die Luft. Schon nach wenigen Augenblicken konnte Ruben sie nicht mehr von den anderen Möwen unterscheiden, die um den Mont St. Michel ihre Kreise zogen und ihre heiseren Schreie gegen die Mauern warfen.
1 7
Unterwegs, August 1789
K einer von ihnen hatte noch Kraft, aber die Furcht, weitere Cherubim könnten auf der Suche nach ihnen sein, trieb sie voran. Javiers Körper hatten
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