Prophezeiung der Seraphim
seines Stuhls. »Jeden Morgen strömen die Bauern auf die Insel, um Markt abzuhalten. Sie setzen mit der Fähre über, da fallen wir nicht weiter auf, wenn wir uns entsprechend kleiden.«
»Sehr gut«, sagte Julie. »Aber die Abtei ist sicher bewacht?«
»Auf dem üblichen Weg kommen wir nicht hinein«, bestätigte Nicolas. »Aber ich war als Junge häufig dort und mir selbst überlassen. Bei meinen Streifzügen habe ich einen verborgenen Gang entdeckt, der zum Garten hinausführt. Bei Dunkelheit wäre es vielleicht möglich, bis zur Mauer zu schleichen – sofern ich den Eingang noch finde. Es gibt nur ein winziges Problem.« Er schien amüsiert.
»Und das wäre?«, fragte Fédéric.
»Der Gang ist nur von innen zu öffnen.« Nicolas grinste.
»Und du findest das lustig?« Fédérics Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Es hat durchaus etwas Komisches, dass es zwar einen Weg in die Abtei gäbe, wir ihn aber nicht benutzen können, weil wir auf der falschen Seite sind.«
»Du Kotzbrocken glaubst wohl, dass dies alles nur ein Spiel ist!« Fédéric sprang auf und schlug Nicolas’ Füße vom Tisch, sodass sein Stuhl umkippte und er zu Boden fiel. Doch schon war er wieder auf den Beinen und hatte Fédéric an der Kehle gepackt. Julie hatte ihn nicht einmal aufstehen sehen. Fédéric würgte und versuchte mit beiden Händen verzweifelt, Nicolas’ Griff zu lösen.
»Lass ihn los, du bringst ihn ja um!« Julie zerrte an Nicolas’ Hemd. Er wandte den Kopf, und einen Moment lang schien er sie nicht zu erkennen. »Loslassen!« Julie hämmerte auf seinen Arm ein, der sich anfühlte wie aus Stein.
Plötzlich ließ Nicolas Fédéric los und trat zurück. Letzterer hustete und fiel auf seinen Stuhl zurück. »Rizinus und Mäuseköttel, musst du gleich durchdrehen?«
»Entschuldigung«, sagte Nicolas lässig. »Ich bin in letzter Zeit etwas reizbar.« Auch er setzte sich wieder und fuhr fort, als wäre nichts geschehen: »Da der Eingang nur von innen zu öffnen ist, bräuchten wir jemanden, der sich bereits in der Abtei aufhält.«
Julie wechselte einen Blick mit Fédéric, der den Kopf schüttelte, und so ging sie nicht weiter auf Nicolas’ Ausbruch ein und fragte: »Kennst du jemanden dort, dem wir eine Nachricht schicken könnten? Jemand, der nur so tut, als wäre er dem Erzengel ergeben?«
»Nein, und selbst wenn, wäre das zu gefährlich.«
»Du kämst in die Abtei hinein«, sagte plötzlich Plomion. »Wenn du vorgibst, zu Kreuze zu kriechen, wird Elisabeth dich wieder aufnehmen.«
Nicolas lachte. »Ja, ganz bestimmt wird sie mich in ihre mütterliche Arme schließen!«
Unvermittelt erreichte Julie ein Gedanke von Songe: Ich denke, ich weiß, wie wir in die Abtei hineinkommen. Aber wir werden Hilfe brauchen.
Die folgenden Nächte verbrachte Plomion beim Dorfschmied und stellte mit ihm zusammen die Waffe her, die den Herzkristall tragen sollte. Es war nicht ungewöhnlich, dass der Schmied auch nachts arbeitete, wenn er dringende Aufträge hatte, und deshalb fiel im Dorf nicht weiter auf, was vor sich ging. Der Schmied war es auch, der ihnen einfache Kleidung besorgte, damit sie sich unbemerkt unter die Landbevölkerung mischen und mit der Fähre zur Insel übersetzen könnten.
Julie fiel es besonders schwer, zu warten und nichts unternehmen zu können. Sie fürchtete, die Comtesse würde irgendwann erfahren, dass sie die Eremitage als Unterschlupf benutzten. Zudem vergrößerte jeder zusätzliche Tag dort die Gefahr, dass zufällig jemand vorüberkam. Sie wagten nicht, Feuer zu machen und saßen abends beim trüben Schein weniger Kerzen zusammen. Zudem machte ihr Nicolas Sorgen, der sich nach wie vor weigerte, sich mit seinem Vater auszusprechen. Fédéric ging sie aus dem Weg, weil sie Nicolas nicht noch weiter reizen wollte.
Deshalb war sie erleichtert, als Plomion nach drei Nächten am frühen Morgen mit einem in Leinwand gehüllten Gegenstand auf der Schulter aus dem Dorf zurückkehrte. Mit stolzem Lächeln wickelte er das Gerät aus, das er »Kristallkanone« getauft hatte, nachdem sich Julie erinnert hatte, dass ihr Vater sie in seinem Gespräch mit Gabrielle so genannt hatte.
Es sah genauso aus wie auf der Zeichnung, dennoch war Julie überrascht, wie filigran und elegant das Gestell geworden war. Es war so gebogen, dass sie es sich bequem über die Schulter legen konnte und erstaunlich leicht. In die kardanische Aufhängung, ein System von drei um ihre Achse drehbaren Ringen, würde der
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