Prophezeiung der Seraphim
Sie schloss die Augen und dachte an Fédéric, stellte sich sein Gesicht in allen Einzelheiten vor, ließ ihn in ihrer Fantasie lächeln und Silbersplitter in seinen Augen tanzen. So vieles hätte sie ihm noch sagen wollen – oder vielmehr, nur eines.
So intensiv war das Traumbild, dass sie sogar meinte, seine Stimme zu hören, die ihren Namen rief.
»Julie, Julie!«
Das war kein Traum! Die Stimme drang unter dem Altar hervor, wenn auch so leise, dass nur sie sie hören konnte. »Ich werd die Weißkittel ablenken und euch da runterholen!«
»Bitte beeil dich!« Julie kämpfte gegen die Ohnmacht, doch lange würde sie nicht mehr durchhalten.
In diesem Augenblick erfüllte das Bersten von Glas die Kirche, dann prasselten Splitter auf den Steinboden wie Hagelkörner. Ein Windstoß fegte durch das zerbrochene Hauptfenster des Chors, als etwas Großes, Helles hindurchsauste. Der Luftzug weiter Schwingen ließ das Feuer flackern, sodass die Schatten der Cherubim sich an den Kirchenwänden zu winden schienen.
Alis! Auf seinem Rücken saß Plomion und schwang die Kristallkanone wie einen Knüppel. Noch bevor die Seraphim begriffen hatten, was geschah, war das Kalokardos über ihnen. Julie hörte es knacken, als Pomion die Kristallkanone gegen den Kopf des Erzengels schmetterte. Cal brach lautlos zusammen. Der Opferdolch schlitterte klirrend über den Boden.
Tumult brach aus, als Agenor und Eris an Cals Seite stürzten und die anderen Seraphim versuchten, sich vor den wild schlagenden Flügeln des Kalokardos in Sicherheit zu bringen. Plomion lenkte Alis in engen Schleifen durch das Hauptschiff, er wirkte mit seiner grimmigen Miene auf einmal gar nicht mehr wie ein ältlicher Gelehrter, sondern wie ein Rachegott.
Fédéric nutzte das Durcheinander, um erst Julie, dann den nach wie vor bewusstlosen Ruben herunterzulassen. Glücklicherweise waren die Ketten lang genug, sodass sie sich hinter dem Altar verstecken konnten. Julie wollte Fédéric helfen, Ruben in Sicherheit zu bringen, doch ihre Arme waren so taub, dass sie sie nicht anheben konnte. Fédéric verstand, und als er Ruben abgelegt hatte, rieb er ihre Schultern, bis das Blut wieder zu fließen begann.
»Schnell, mach mir das Amulett ab!«
Mit fliegenden Fingern wickelte Fédéric die Kette von ihrem Handgelenk und ließ den Stein in ihre Tasche gleiten.
Kurz sahen sie sich an, Fédérics Gesicht war blass, aber sein Blick entschlossen. »Was soll ich tun?«
»Ich glaube, die Kette, die die Comtesse trägt, verleiht ihr Macht über die Cherubim.«
»Ich kümmere mich drum. Lauf nicht weg!« Ein schnelles Grinsen, er huschte davon. Julie spähte hinter dem Altar hervor. Alis und Plomion befanden sich in großer Gefahr: Mehrere Cherubim umkreisten sie, und eben hob die Seraph mit dem roten Haar die Arme, worauf das Feuer der Schale sich in eine brennende Schlange verwandelte, die sich emporwand und auf Alis zuschoss. Zwei Cherubim wurden von ihr gestreift und verpufften, glühende Ascheflocken schwebten durch die Luft. Alis selbst konnte den Flammen zwar ausweichen, doch für größere Manöver war in der Kirche kein Platz, und es würde nicht lange dauern, bis die Flammen ihn trafen.
Julie richtete sich auf und schickte einen Lichtstrahl aus Furcht gegen die Rothaarige. Die Magie wirkte sofort, die Seraph schrie auf, wich zurück und versteckte sich furchtsam hinter einem Pfeiler. Dadurch geriet die Feuerschlange außer Kontrolle, jagte zwischen den Säulen hindurch und traf Villeraux, der plötzlich an einer Seitenpforte erschienen war. In den Sekunden, die es dauerte, bis die Flammen ihn einhüllten, fiel Julie die Ähnlichkeit zwischen ihm und der rothaarigen Seraph auf. Ohne Gelegenheit zu einem Schrei zu haben, wurde er vom Feuer seiner Mutter verzehrt, die hinter der Säule hervorstürzte und verzweifelt schrie. Julie spürte kein Mitleid mit ihr, sondern verfolgte mit den Blicken das Feuer, das nun schrumpfte und sich wieder in die Schale zurückzog.
Auf einmal klirrte etwas vor ihr auf den Boden. Ein Schlüssel!
Julie entdeckte eine Möwe, die mit elegantem Schwung abdrehte und dicht unter der Decke durch das Kirchenschiff segelte. Noch im Flug veränderte die Möwe ihre Gestalt und wurde zu einem menschengroßen Adler. Dort, wo Plomion und Alis noch immer gegen mehrere Cherubim kämpften, stürzte sich der Vogel auf eines der Ungeheuer, krallte sich an dessen Kopf fest und hackte nach seinen Augen. Der Cherub jaulte auf und versetzte dem Vogel
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