Prophezeiung der Seraphim
nichts zu verlieren. Ihm war bewusst, dass Cal nur mit ihm spielte und ihn in jedem Fall töten würde. Nur wenn er ihrer beider Blut vergoss, würde er seine Flügel zurückerhalten und so das Tor zwischen den Welten öffnen können.
Es sei denn, jemand hielte ihn auf.
Jetzt stand Ruben neben dem Altar. Julie gab keinen Laut von sich, sah aber mit schreckensgeweiteten Augen zu ihm auf. Ruben zwang sich, nicht auf sie, sondern nur auf Kronos zu achten und streckte den Arm aus. Er zwang sich zu einem Lächeln, während ihm unter der Kleidung der Schweiß über die Haut rann.
Der Erzengel beobachtete ihn prüfend, dann trat er zurück, ohne Julies Haar loszulassen, und reichte Ruben den Dolch. Ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ein Sohn ganz nach meinem Geschmack.«
Der Dolch lag schwer in Rubens Hand, seine mit geheimnisvollen Zeichen gravierte Klinge leuchtete. Julie atmete schnell. Cal hielt ihren Kopf eisern über der Schale fest. »Bitte nicht«, flüsterte sie stockend.
»Keine Sorge«, antwortete Ruben. »Es geht ganz schnell.« Dann wirbelte er herum und stieß den Dolch bis zum Heft in den Leib seines Vaters.
Der Erzengel ließ Julie los, die zu Boden fiel, dann blickte er an sich herunter, hob den Kopf und sah Ruben an. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, doch als er den Mund öffnete, floss nur Blut heraus.
»Verräter!«, schrie Glaukos.
Ruben wurde nach hinten gerissen und fiel rücklings auf den Altar. Unsichtbare Hände drückten seine Schultern auf den Stein. Sein Vater legte langsam beide Hände um den Dolchgriff. Er brüllte auf, als er die Klinge aus seinem Körper zog und taumelte, hatte sich jedoch sogleich wieder in der Gewalt. Ein dünner, aber beständiger Blutstrom ergoss sich aus der Wunde. Aus den Augenwinkeln sah Ruben, wie Perses Julie packte und auf die Füße zerrte, dann entschwand sie aus seinem Blickfeld. Er hörte sie seinen Namen rufen, doch er war auf den Altar gebannt und konnte nicht einmal den kleinen Finger bewegen. Das konnte nur Glaukos sein!
Kronos, sein Vater, hielt sich mühsam aufrecht und hob mit wutverzerrtem Gesicht den Dolch. Dann sauste sein Arm herab und Ruben spürte, wie die Klinge in sein Fleisch eindrang.
Der kahlköpfige Seraph zwang Julie zuzusehen, wie Cal ihren Bruder tötete. Als die Klinge niederfuhr und Ruben im Todeskampf röchelte, schrie sie und versuchte, sich aus dem Griff des Seraphs zu winden. Der Schnitt an ihrem Hals brannte und sie fühlte, wie ihr Blut in den Kragen lief.
»Siehst du, es hat keinen Sinn, sich zu wehren«, flüsterte der Kahle ihr ins Ohr. »Dein Bruder ist tot, ergib dich deiner Bestimmung. Es ist eine Ehre, dass Kronos durch dich seine Flügel zurückerhalten wird.« Die Stimme kroch in Julies Ohr wie eine Schlange, die Worte waren so einleuchtend, dass sie stillhielt. Der Seraph hatte recht: Es war sinnlos, sich gegen das Schicksal aufzulehnen. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass die Gabe des Kahlen seine Beredsamkeit war, doch seine Worte klangen so überzeugend, dass sie sich nun ohne Widerstand zu leisten vor den Erzengel führen ließ.
Cal schwankte. Er stand in einer Pfütze aus Blut, und als er aufstöhnte, drang erneut ein ganzer Schwall davon aus seinem Mund und klatschte auf den Boden. Auf seinem Gesicht lag ein ungläubiger Ausdruck.
»Kronos, du musst auch sie töten!«, drängte der Kahlkopf und schob Julie näher. Doch der Erzengel ließ den Dolch fallen und sank auf die Knie. Er blinzelte und sein schönes Gesicht veränderte sich: seine Wangen fielen ein, die glatte Haut wurde runzlig und sein Haar wurde schlohweiß. Dann kippte er vornüber in die Blutpfütze und lag still.
Julie sah auf Cal herab und erwartete, dass er sich jeden Moment grinsend erheben würde. Es dauerte einige Zeit, bis sie begriff, dass er tatsächlich tot war. Sie dachte, dass sie Triumph empfinden sollte, weil Gabrielle und Jacques gerächt waren, doch in ihr regte sich nichts.
Noch immer lag der Unterarm des Kahlen um ihren Hals. Sie schluckte. »Dein Meister ist tot, Seraph. Entscheide dich, auf wessen Seite du dich nun stellst.«
Der Arm wurde zurückgezogen. Julie drehte sich um und der Kahle verneigte sich vor ihr, ohne zu zögern. Die Verachtung, die in ihr aufwallte, war so groß, dass sie ihn am liebsten getreten hätte. Als sie sich abwandte, sah sie, dass der Kampf in der Kirche noch nicht vorüber war. Später würde sie zu Ruben gehen und sich verabschieden, doch zuerst musste sie sich um
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