Prophezeiung der Seraphim
kleine Zeremonie nicht störst.«
»Wie nett von dir, Vater !«, fauchte sie.
Aber die Anrede schien den Erzengel nicht zu beeindrucken. Er wandte dem Altar den Rücken zu und schritt zu einer großen, flachen Feuerschale, die in dem freien Raum zwischen dem Altar und den Bankreihen brannte. Erst jetzt bemerkte Julie, dass um die Schale herum sechs Gestalten in weißen Roben standen, unter ihnen die Comtesse d’Ardevon und der blond gelockte Seraph mit Namen Glaukos.
»Schöner Mist«, presste Ruben mit hochrotem Kopf hervor. »Mir platzt gleich der Schädel. Wie lange hält man es aus, mit dem Kopf nach unten zu hängen?«
Julie antwortete nicht, sie wand sich nach allen Richtungen, um sich einen Überblick zu verschaffen – wenn dieser auch auf dem Kopf stand.
Zu beiden Seiten des Altars hatten sich Cherubim aufgebaut, ebenso wie vor den Säulen der Seitenschiffe. Reglos wie sie waren, konnte man sie für Statuen aus Obsidian halten, nicht einmal ihre Augen bewegten sich. Julie erkannte Dazaar, der alle anderen überragte und hinter der Comtesse wachte. Von den Verletzungen, die Fédéric ihm mit der Fackel zugefügt hatte, war nichts mehr zu sehen. Neben der Comtesse hob eine rothaarige Seraph die Arme und das Feuer loderte auf, so hoch, dass Julie selbst auf die Entfernung die Hitze im Gesicht spürte.
Nun stimmte der Erzengel eine Litanei in einer fremdartigen, dunklen Sprache an, und im Flammenschein blitzte ein Dolch auf, den er mit beiden Händen über seinen Kopf hielt.
»Es sieht nicht gut aus für uns, Schwester«, presste Ruben hervor.
Trotz der Gefahr, die ihr selbst drohte, hielt Julie nach Fédéric und Songe Ausschau. Wo waren sie? Vom Feuer abgesehen gab es keine weiteren Lichtquellen, und sie entdeckte erst nach einiger Zeit einen Körper, der zwischen den Säulen eines Seitenschiffs lag. Es war Fédéric. Sie konnte gerade noch einen Schreckenslaut unterdrücken: Nur nicht die Aufmerksamkeit der Seraphim auf sich ziehen! Obwohl das Blut in ihrem Kopf pochte, dachte sie fieberhaft nach.
Gerade als Ruben »Was sollen wir tun?« flüsterte, wusste sie die Lösung. Sie streckte ihren Geist aus und flehte innerlich, dass die Entfernung nicht zu groß sein mochte.
Alis, kannst du mich hören?
Der Erzengel nahm den Dolch und hielt ihn in die Flammen, wobei die dunklen Worte noch immer durch die Kirche hallten. Julie ahnte, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb.
Alis, bitte! Wir sind gefangen, in der Abteikirche. Ihr müsst uns helfen!
Kurz glaubte sie, einen schwachen Widerhall zu spüren, weniger Worte als ein Gefühl, doch es verschwand wieder. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Botschaft angekommen war.
Aus dem Augenwinkel erhaschte sie eine Bewegung, drehte den Kopf und sah gerade noch etwas Weißes in den Schatten des Seitenschiffs verschwinden. Songe! Und die Stelle, wo Fédéric gelegen hatte, war jetzt leer. Julie schöpfte neue Hoffnung. Fédéric und Songe würden sie nicht im Stich lassen.
Doch die Comtesse d’Ardevon hatte Fédérics Verschwinden ebenfalls bemerkt. »Sucht ihn!«, befahl sie den statuenhaften Cheru bim. Als sich die Comtesse wieder zum Feuer drehte, leuchtete an ihrem Hals etwas auf. Julie kniff die Augen zusammen und sah, dass es sich um ein goldenes Kreuz handelte, über dessen Quer balken sich jedoch eine Schleife wand. Julie hatte dieses Symbol in Jacques’ Enzyklopädie gesehen: Es war ein Ankh, und sie wusste, dass es ein Symbol für Unsterblichkeit darstellte. Bei den Worten der Comtesse waren die Cherubim zum Leben erwacht und nun kratzten ihre Krallen über den Steinboden – schlagartig wurde Julie klar, dass es das Schmuckstück war, das der Comtesse Macht über die Dämonen verlieh.
Verzweifelt sah sie zu, wie die Cherubim in die Seitenschiffe ausschwärmten. Sie konnte nur hoffen, dass Fédéric ein sicheres Versteck gefunden hatte.
»Er kann nicht weit sein, alle Eingänge sind verschlossen.« Der Erzengel bedeutete den Seraphim, mit dem Ritual fortzufahren. Wieder hielt er den Dolch in die Flammen, dann reichte er ihn weiter, und nacheinander reinigten alle sechs die Klinge im Feuer.
»Wer sind die?«, flüsterte Julie zu Ruben hinüber, aber als sie den Kopf drehte, bemerkte sie, dass er ohnmächtig geworden war.
Auch ihr begannen schwarze Punkte vor den Augen zu tanzen, das Blut staute sich in ihrem Kopf und ihre Arme waren völlig gefühllos. Wenigstens würde sie nicht merken, wie der Erzengel sie abschlachtete, wenn sie bewusstlos war.
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