Prophezeiung der Seraphim
sie.
Nicolas sah seine Mutter an.
»Einverstanden«, sagte sie. »Der Kristall nutzt uns nichts.«
»Wirf mir zuerst den Dolch zu«, verlangte Nicolas.
Julie zögerte. Und wenn er ihr den Kristall nicht geben würde? Doch einer von ihnen musste zuerst nachgeben. Mit einem Aufschrei schleuderte Julie die Klinge gegen ihn, in der Hoffnung, sie möge ihn treffen, aber Nicolas hob die freie Hand und fing die Waffe sicher auf.
»Und jetzt gib mir den Kristall!«, forderte sie. Nicolas’ Lächeln machte ihr Angst.
»Fang!«, sagte er und holte weit aus. Dann bewegte er sich blitzschnell zu seiner Mutter, hob sie hoch und trug sie zum Ausgang. Er war bereits in der Nacht verschwunden, als der Herzkristall hoch über Julies Kopf an einem Pfeiler zerschellte und als glitzernde Splitter auf sie herabregnete.
»Nein!« Ihr Schrei schien die Säulen zu erschüttern –, nun hatte Nicolas jede Hoffnung zunichtegemacht, Fédéric zu retten und Rhea zu befreien.
Doch Julie hatte keine Zeit, sich damit aufzuhalten: Der sinnlose Kampf zwischen Dazaar und Alis tobte noch immer dicht unter dem Gewölbe der Hauptschiffs, während am Boden Plomion von der Feuerschlange und Agenor bedrängt wurde. Die dunkelhaarige Seraph hatte sich wieder erhoben und half Plomion, indem sie mit einem Kandelaber Agenors Schwert abwehrte. Nicolas’ Vater umklammerte die Kristallkanone, nicht wissend, dass sie nutzlos geworden war.
Julie musste handeln. Während sie zum Altar zurück lief, zog sie ihr Amulett aus der Tasche und trat dann zu Ruben, der seines noch immer um den Hals trug. Vorsichtig nahm sie es ihm ab. Kurz küsste sie ihn auf die Wange – trauern würde sie später.
Dann huschte sie im Schutz des Seitenschiffs zu Fédéric. Sie zog ihre Weste aus und legte sie ihm unter den Kopf. »Bitte stirb nicht«, flüsterte sie. Weiter von Säule zu Säule schleichend, näherte sie sich ungesehen dem Kampfgeschehen. Einfach würde es nicht werden, und sie musste den richtigen Augenblick abwarten, um nicht Plomion und das Mädchen zu treffen. Halb hinter einer Kirchenbank verborgen, sammelte Julie ihre letzten Kräfte. Sie wusste, dass sie nur eine Chance hatte.
Sie schloss die Augen und spürte, wie das Gefühl unnatürlicher Ruhe sich erhob, sich in ihrem Inneren ausdehnte, bis sie ganz davon erfüllt war. Sie öffnete die Augen, stand auf und das Licht schoss aus ihren Fingern, erreichte die Kämpfenden und wusch wie eine Flutwelle über sie hinweg, brandete an der Mauer hoch und erfasste auch Alis und Dazaar, die in der Höhe immer noch miteinander kämpften. Zwei Herzschläge lang schien alles wie eingefroren, dann löste sich das magische Licht auf. Die Feuerschlange erlosch, Agenors Schwert fiel ihm aus der Hand. In den Gesichtern der beiden Seraphim lag ein leerer Ausdruck.
»Achtung!« Julie sprang aus ihrem Versteck, rannte zu Plomion hinüber, der die veränderte Lage noch nicht erfasst hatte, und drückte ihn in eine Nische. Genau vor ihnen krachten Alis und der Cherub ineinander verkrallt auf den Marmorboden.
Plomion wischte sich über die Stirn. »Grundgütiger«, hauchte er, aber Julie hörte ihn kaum. Sie starrte auf Alis, dessen weißes Fell nun rot gefleckt war. Einer seiner Flügel war halb abgetrennt, an etlichen Stellen hatte Dazaar ihm große Fleischstücke aus dem Körper gerissen.
Der Cherub hatte weniger schlimme Verletzungen davongetragen, war aber betäubt.
Julie legte ihre Hand auf Alis Fell, das nicht mehr weich war, sondern blutverklebt. Trauer zerriss ihr das Herz.
Nimm. Der Widerhall von Alis’ Gedanken in Julies Geist war schwach. Nimm Herz.
»Nein!« Julies Hand kraulte das Kalokardos zwischen den Ohren. »Du wirst wieder gesund. Mathilde wird dich heilen!« Sie schrie, als würden ihre Worte dadurch wahr.
Nimm, bevor Gift wirkt. Alis legte den Kopf auf die Seite, seine Augen wurden trüb.
Julie schüttelte den Kopf, aber sie wusste, dass er recht hatte.
Schnell …
Sie atmete tief ein. »Das Schwert«, sagte sie tonlos. Plomion hob es auf und reichte es ihr schweigend. Sie hielt den Atem an, während sie Alis’ Brust aufschnitt. Die Klinge drang mit Leichtigkeit durch Haut und Fleisch. Alis zuckte nur kurz zusammen, aus der Wunde trat kaum Blut – er hatte den größten Teil davon bereits verloren.
Es kostete Julie ihre gesamte Willenskraft, das zu tun, was getan werden musste, aber sie durfte nicht mehr zögern, um Alis nicht zu quälen. Sie weitete die Wunde, drückte die dünnen Rippen
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