Prophezeiung der Seraphim
beherrschen. Wohin ich auch gehe, irgendwann werden sie mich finden.«
Nicolas seufzte. »Wir müssen also nach St. Malo, weil dort der einzige Mensch lebt, der weiß, wie dieser Mechanismus hier funktioniert? Die Stadt liegt recht nah an Mont St. Michel. Vielleicht lädt Cal Savéan uns zum Abendessen ein.«
»Soll das heißen, du begleitest mich?«
»Ich kann einfach der Versuchung nicht widerstehen, meiner Mutter und dem Erzengel einen dicken Strich durch ihre hübsche, kleine Rechnung zu machen.«
»Ich denke, ich weiß nun, weshalb deine Mutter hinter mir her ist.« Julie beobachtete Nicolas genau, während sie fortfuhr: »Es hat etwas damit zu tun, dass ich Cals und Rheas Tochter bin.«
Nicolas antwortete zunächst nicht. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und blies in seine gefalteten Hände. »Das erklärt einiges, wenn auch nicht alles«, sagte er schließlich. Alles hochnäsige Gehabe war von ihm abgefallen. »Ich habe ein wenig in den Unterlagen meiner Mutter gewühlt, weil ich mich nicht an den genauen Wortlaut der Prophezeiung erinnern konnte. Hör zu:
Der Höchste raubte euch die Schwingen,
Verbannte euch, versiegelte das Tor.
Nie soll die Rückkehr mehr gelingen,
Nie wieder Macht euch eigen sein so wie zuvor.
Doch einer wird sich unter euch erheben,
Der zweifach soll sein eigen Blut vergießen,
Vergehen muss, um neu zu leben,
Auf dass ihm wieder Flügel sprießen.
Dem Schwarzen Engel steht es offen,
Das Tor, das lang verschlossen war.
Wenn er den Höchsten übertroffen,
Ihm dienen wird die Dunkle Schar.
Wenn ich eine Prophezeiung zu verkünden hätte, würde ich sie etwas verständlicher formulieren«, sagte Nicolas abschließend.
»Der zweifach soll sein eigen Blut vergießen …«, sagte Julie nachdenklich. »Was soll das bedeuten?« Etwas an dem Wort zweifach schlug eine Saite in ihr an, doch ihr wollte nicht einfallen, woran das lag.
»Ich frage mich, welche Rolle dir bei all dem zugedacht ist«, sagte Nicolas und sah sie durchdringend an.
»Du glaubst, ich habe etwas mit dieser Prophezeiung zu tun? Und wer will sich erheben – mein leiblicher Vater?«
»Cal sucht den Weg zurück ins Ursprüngliche Reich, das ist kein Geheimnis. Wenn er Phanes besiegt, stehen ihm die Dunklen Scharen zur Verfügung, und wenn diese erst unsere Welt heimsuchen, ist es mit der Herrschaft der Menschen vorbei«, sagte Nicolas.
»Wer sind diese dunklen Scharen?«
»Alles nur denkbare Gezücht aus den Tiefen des Ursprünglichen Reiches, in dieser Welt auch Hades genannt: hundertarmige Ungeheuer, Zyklopen und was sonst noch alles dort haust.« Nicolas grinste. »Klingt vielversprechend, nicht wahr?«
Julie fiel schwer, seinen Worten zu glauben, aber nachdem sie dem Cherub begegnet war, musste sie sich wohl an den Gedanken gewöhnen, dass alles möglich war – selbst, dass Zyklopen existierten. Und plötzlich fiel es ihr ein. Sie schlug die Hand vor den Mund. Wie hatte sie das nur vergessen können!
»Meine Pflegeeltern haben etwas gesagt – Nicolas, ich glaube, ich habe einen Bruder. Aber niemand weiß, wo er ist.« Sie schwieg einen Augenblick. Der zweifach soll sein eigen Blut vergießen … »Hat er vor, uns zu töten? Sucht er uns deshalb?«
Nicolas wollte etwas erwidern, aber Julie hob die Hand. Sie versuchte, die Bedeutung all dessen zu begreifen. »Aber weshalb? Und wenn ich unsterblich bin, wie kann ich getötet werden?«
Nicolas räusperte sich. »Es gibt einen einzigen Weg, wie ein Seraph sterben kann: durch die Hand eines Blutsverwandten. Wir sollten uns so weit weg von hier begeben wie nur möglich.«
Julie schüttelte den Kopf. »Deshalb hat Rhea uns weggegeben«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Nicolas. »Sie wollte uns vor unserem Vater in Sicherheit bringen.«
»Und sie wusste, was sie tat.«
»Wenn er mich töten kann«, sagte Julie langsam und sah Nicolas an, »dann bedeutet das umgekehrt, dass ich ihn ebenfalls töten kann.«
Nicolas schüttelte den Kopf. »Denk nicht einmal daran. Du hast keine Vorstellung davon, wie mächtig er ist.«
»Meine Pflegeeltern wollten, dass ich gegen Cal kämpfe. Ich bin sicher, dass Rhea das auch wollte. Es war ihr Plan, dass ich und mein Bruder unseren Vater aufhalten.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Wenn ich nur wüsste, wo er steckt!«
»Eigentlich wollte ich dir das nicht erzählen«, sagte Nicolas nach einer Weile, »aber wie es scheint, haben wir gerade beschlossen, den Erzengel herauszufordern. Wenn ich dich nicht
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