SPIEGEL E-Book: Gutenbergs neue Galaxis: Vom Glück des digitalen Lesens (German Edition)
„Wie geht es eigentlich Marshall McLuhan? Ist er immer noch tot?“
[Witz unter Medientheoretikern]
Am Abend vor dem Abflug nahm ich einen Teppichschneider, um den „Zauberberg“ zu zerteilen. Den ersten Teil, bis Seite 256, hatte ich schon gelesen. Auf die Reise nahm ich nur den Rest von Thomas Manns Roman mit, schließlich wollte ich mit dem Fahrrad quer durch Kuba fahren. Der halbe „Zauberberg“ war immer noch schwer genug, das zerteilte Buch wog fast ein Pfund.
Wie viele Bücher passen in einen Rucksack, neben Zelt, Kocher, Regenkleidung? Drei, vier, fünf vielleicht? Schon als Jugendlicher packte ich vor jeder Wandertour ein paar Bände ein. Ich liebte Bücher. Bücher aus Papier, andere gab es nicht. Noch immer quellen die Regale in meiner Wohnung über vor Büchern. Aber irgendwann tat mir beim Wandern der Rücken weh, weil mein Rucksack zu schwer war. Ich träumte davon, meine Bibliothek in der Hosentasche mit mir herumtragen zu können.
Die Fahrradtour nach Kuba ist zwölf Jahre her. Inzwischen muss ich vor einer Reise nicht einmal mehr überlegen, welches Buch ich unterwegs lesen will. Ich kann mich immer noch entscheiden, wenn ich schon im Zug bin, sogar noch auf der Berghütte. Solange mein Handy dort eine Internet-Verbindung bekommt, mit der ich die Bücher herunterladen kann. Beim Joggen höre ich Hörbücher.
Früher reisten die Bücher in meinem Rucksack, heute reise ich, egal ob ich in den Bergen bin oder am Strand, wie durch eine riesige Bibliothek. Alles ist da, fast jedes Buch, auf das ich gerade Lust habe. Es ist großartig.
Wie verändert die elektronische Medienumwelt das Denken, das fragte der kanadische Philosoph Marshall McLuhan in seinem Buch „Die Gutenberg-Galaxis“ vor über fünfzig Jahren. Für ihn brach mit den elektronischen Medien eine neue Ära an, eine Kultur jenseits der Schrift. McLuhan glaubte, dass wir bald nicht mehr lesen würden.
Die Schrift ist nicht verschwunden, wir leben geradezu in einem goldenen Zeitalter des Lesens. Wir haben die Gutenberg-Galaxie nicht verlassen, sondern wir erkunden einen neuen Spiralarm dieser Galaxie.
Von dieser Welt handelt diese Geschichte, ein elektronisches Buch über elektronische Bücher. Im folgenden nenne ich sie E-Books, denn der englische Begriff ist der geläufigste (als seien elektronische Bücher etwas Fremdes, für das man kein deutsches Wort braucht). Dies Buch ist ein Selbstversuch, ein Bericht über meinen Umstieg von gedruckten Buchstaben zu solchen, die nur aus Pixeln bestehen, eine Plauderei mit Leserbriefschreibern, eine Linksammlung für die E-Book-Welt, ein Remix von Artikeln, die im SPIEGEL erschienen sind. Es ist auch ein Bericht von Orten, an denen eine neue Buchkultur jenseits des Papiers entsteht, mit Zwischenstopps
in einer zunehmend buchfreien Bibliothek in Lausanne, wo ein Tisch entwickelt wird, der einmal Gespräche moderieren soll;
bei einem digitalen Lesezirkel in Brooklyn und im Netz;
bei einem Bibliothekar, der zur Kaiserzeit so etwas wie ein Papier-Internet erfand;
bei Buch-Hackern in Berlin, die das geschriebene Wort als Rohstoff für „Social Reading“ sehen;
bei Pionieren in Hamburg, die Spielkonsolentechnik zum Schreibwerkzeug für Gebärdensprache umbasteln;
in einem Buchenhain am Rande von Berlin, wo Papierbücher beerdigt werden.
Die Reise endet in der Vergangenheit: bei der Verlobung meiner Eltern, die sich einem Novalis-Märchen verdankt, das ich immer bei mir trage.
Dieses E-Book basiert auf persönlichen Erfahrungen. Wie lesen Sie? Wie wollen Sie lesen? Lassen Sie uns darüber reden, vielleicht auf Twitter unter #alleswirdgutenberg. Mein Name dort ist @hilmarschmundt , ich freue mich auf das Gespräch.
Geschenkt: Lust und Last der E-Books
Bücher werden gerne verschenkt. Ausgerechnet hier bereiten E-Books große Schwierigkeiten. Die große Steve-Jobs-Biografie von Walter Isaacson zum Beispiel. Mein Bruder schenkte sie mir zwei Tage vor dem offiziellen Verkaufsstart, keine Ahnung, wo er das Buch her hatte. Ich freute mich über die Geste und die Mühe, die er sich gemacht hatte. Sobald es die elektronische Ausgabe gab, besorgte ich sie mir trotzdem.
Wenige Wochen nach meinem Geburtstag kam das schon das erste elektronische Update für das Buch heraus, eine leicht verbesserte zweite „Auflage“. Ich lud sie mir sofort herunter – und fühlte mich wie ein Verräter. Ein undankbarer Bruder, ein Abtrünniger der Buchkultur und des Schenkens an sich. Zwar kann man auch
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