Prophezeiung der Seraphim
gekümmert hatte. Er sprang aus dem Bett, zog sich seine dunkelblaue Samthose über, stopfte das Hemd hinein und schlüpfte barfuß in die Schnallenschuhe, die ihm die Comtesse geschenkt hatte. Dann nahm er die Laterne und schlich auf den Korridor, an dessen Ende sich die Tapetentür befand, die zur Wendeltreppe der Dienerschaft führte.
Kühle Luft kam Ruben entgegen, als er nach oben stieg. Das Dachgeschoss lag im Dunkel, und er war froh um seine Laterne. Außer dem Knarren der Dielen war kein Laut zu hören. Er ging bis zu Henris Tür und klopfte. Drinnen blieb alles still. Ruben musste lächeln: Henri schlief immer wie ein Stein. Vorsichtig drehte er den Türknauf. Er beschloss, seinem Freund einen ordentlichen Schreck einzujagen, schlüpfte durch den Türspalt und hielt seine Laterne hoch. Ein Lichtstreifen fiel quer über Henris Bett. Es war leer.
»Beruhigt Euch, mein Prinz«, sagte Elisabeth d’Ardevon und streckte die Hand nach Ruben aus. Ohne nachzudenken, war er von Henris verlassenem Zimmer zu ihrem Salon gelaufen, und, als er Licht sah, hineingestürzt.
»Ich will wissen, wo Henri ist«, wiederholte Ruben und sah stur auf seine Füße. Diesmal würde er sich nicht einlullen lassen!
»Wie geht es Euch? Ihr hattet Fieber, als wir vom Palais des Herzogs zurückkehrten.«
»Ich dachte, Henri geht es gut«, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.
»Das tut es sicher auch.« Die Comtesse ließ sich wieder an dem Tischchen nieder, auf dem sie bei seinem Eintreten eine Patience gelegt hatte. »Ich habe es Euch nicht gesagt, weil ich Euch nicht beunruhigen wollte, mein armer Liebling.« Ohne aufzusehen, mischte sie die Karten neu und begann sie auszulegen.
»Wovon sprecht Ihr?« Ruben starrte auf ihre Haare, die zu einer dunklen Löwenmähne gebauscht waren.
Die Comtesse seufzte, aber es klang nicht sehr betrübt. »Er ist vor einigen Nächten einfach verschwunden. Ein Diener sagte mir, er habe ihn auf der Treppe gesehen, mit einem Bündel über der Schulter.«
Ruben blinzelte mehrmals und fand kaum genug Atem, um weiterzusprechen. »Wohin wollte er?«
»Sicher zurück nach Hause, wo immer er herkommt. Aber Ihr werdet doch einem Menschen nicht nachweinen.« Sie hob den Kopf, und er wandte hastig den Blick ab.
»Natürlich nicht«, entgegnete er. »Ich habe mich nur gewundert.« Er drehte sich weg und schlug einige Tasten auf dem am Fenster stehenden Cembalo an.
»Mich hat es ebenfalls erstaunt.« Ruben hörte, wie Elisabeth d’Ardevon in rascher Folge einige Karten ablegte, dann fuhr sie fort: »Es erging ihm doch mehr als gut in meinem Haus, nicht wahr?«
Ruben stimmte ihr zu, aber er fühlte, dass Henri niemals fortgegangen wäre, ohne sich von ihm zu verabschieden. Oder war er wütend gewesen, weil er sich so lange nicht um ihn gekümmert hatte? Das schlechte Gewissen biss erneut zu, und es hatte scharfe Zähne. Ruben verstand sich selbst nicht mehr. Wie hatte er sich von dem Aufhebens, das um ihn gemacht wurde, derart ablenken lassen können, dass er seinen besten Freund vergaß?
»Ihr habt recht«, sagte er bemüht gleichgültig. »Er ist nicht mehr wichtig für mich. Das Fieber hat mir Albträume beschert, es ist wohl am besten, ich lege mich wieder hin.«
»Macht das, mein Prinz, und erholt Euch, denn bald werden wir aufbrechen, um Euren Vater zu treffen.« Sie lächelte, und einen Augenblick lang fühlte er sich schwach werden. Doch die Warnung des Herzogs klang ihm noch in den Ohren.
Da Ruben durstig war, ging er nicht sofort in sein Zimmer zurück, sondern hinunter ins Erdgeschoss, wo sich eine Teeküche befand, in der Philippe tagsüber die warmen Getränke zubereitete. Nachdem er einen Becher Wasser getrunken hatte, setzte er sich im angrenzenden Salon vor dem Kamin, in dem noch ein Feuer glomm, in einen Sessel. Er stocherte mit dem Schürhaken in der Glut herum und sah den aufstiebenden Funken zu. Warum war Henri fortgegangen? Seit ihrer ersten Begegnung waren sie unzertrennlich gewesen. Hatte den Freund das Heimweh gepackt? Aber warum hatte er sich nicht einmal verabschiedet? Doch soviel Ruben auch grübelte, er konnte das Rätsel nicht lösen. In dieser Nacht konnte er nichts mehr unternehmen, aber morgen würde er der Sache nachgehen.
Er gähnte und erhob sich, um wieder in sein Schlafzimmer zurückzukehren, als durch die offene Tür ein Schatten auf das Parkett fiel. Ruben zuckte zurück, als Nicolas eintrat.
»Da ist er ja! Das könnte sich kaum besser treffen«, sagte der
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