Prophezeiung der Seraphim
Die Steinchen trafen ihn aus kurzer Entfernung im Gesicht; er brüllte und griff sich an die Augen. In dem kurzen Moment, in dem er taumelte, erschien hinter ihm ein Schatten. Ein Arm hob sich, ein dumpfer Schlag ertönte, und Jean-Marc sank in sich zusammen.
»Na, was für’n Glück, dass ich übers Tor geklettert bin und mich im Gebüsch versteckt hab.« Der Junge, der den Leibwächter niedergeschlagen hatte, ließ den Stein fallen, den er zu diesem Zweck benutzt hatte.
»Fédéric!«, rief Julie. Offensichtlich kannte sie den Burschen.
Plötzlich jaulte Antoine, der Ruben immer noch gepackt hielt, auf, und der Griff des Seraph löste sich von seinem Kragen. Als Ruben sich umwandte, sah er, wie sein Angreifer versuchte, sich eine weiße Katze vom Gesicht zu ziehen, die sich in seine Wangen verkrallt hatte. Schon liefen Blutfäden über die Haut des Seraphen und färbten seine Halsbinde dunkel.
»Willst du Wurzeln schlagen?«, rief ihm Nicolas, der bereits das Tor aufriss, über die Schulter zu.
Ohne nachzudenken rannte Ruben los und folgte den anderen auf die Straße.
7
Paris,Juli 1789
S ie liefen, bis Julie das Gefühl hatte, der nächste Atemzug würde ihren Brustkorb zerreißen. Ihre Beine zitterten und bei dem Sprung aus dem Fenster hatte sie sich außerdem die Hüfte gestoßen, die nun bei jedem Schritt schmerzte. Doch sie wollte sich nichts anmerken lassen und zwang sich, ihre Erschöpfung zu ignorieren. Als Fédéric ihr die Hand reichen wollte, schüttelte sie den Kopf.
Sie war heilfroh, dass Songe sich nach kurzer Zeit zu ihnen gesellte und wie ein kleiner, weißer Blitz neben ihr herhuschte. Wohin Nicolas sie alle führte, wusste sie nicht, aber sie schienen sich dem Zentrum von Paris zu nähern, denn bald erreichten sie belebtere Straßen. Hier konnten sie in der Menge untertauchen. Obwohl eine aufgekratzte Stimmung auf den Straßen herrschte, spürte Julie darunter etwas Gefährliches lauern. Die Läden der meisten Fenster und Geschäfte waren verrammelt, an einer Ecke spielten drei Gassenjungen johlend »Erschießungskommando« mit Holzstöcken. Die Frauen auf der Straße lachten zu schrill, Bürgermilizen mit Gewehren eilten vorüber, gelegentlich erklangen Schüsse.
Um nicht aufzufallen, passten sie sich der Geschwindigkeit der anderen Passanten an. Nicolas kaufte von einem fliegenden Händler einen gebrauchten, speckigen Dreispitz, der seine hellen Haare bedeckte. »Falls Cherubim nach uns suchen«, erklärte er und sah stirnrunzelnd nach oben. Als er weitergehen wollte, hob Fédéric die Hand. »Julie braucht eine Pause.«
»Es geht schon«, sagte Julie und bemühte sich, nicht zu sehr zu keuchen, aber Nicolas warf einen Blick auf sie und nickte. »Er hat recht. Wir müssen auch unsere weiteren Pläne besprechen.« Er sah sich um und strebte auf eine Hofeinfahrt zu.
»Angeber«, murmelte Fédéric und legte den Arm stützend um Julie.
»Ich bin doch keine Greisin, Guyot«, sagte sie, doch insgeheim war sie froh, dass Fédéric bei ihr war. Sie stieß ihm zärtlich den Ellbogen in die Seite. »Schön, dass du doch nicht tot bist.«
Sie folgten Nicolas und Ruben durch den Schatten eines Gewölbes, dessen Mauern ein feuchter Modergeruch entstieg, und gelangten in einen engen, düsteren Innenhof. Die Wände waren rußgeschwärzt, es stank nach Taubenmist und Abfall.
»Ich hab was für dich.« Fédéric wühlte in der Leinentasche, die er umgehängt trug. »Das gehört dir, denke ich.« Er grinste verschmitzt und reichte Julie ihr Amulett. Sie war erleichtert, als es wieder um ihren Hals hing. »Die Kette, die du mir geschenkt hast, ist allerdings kaputtgegangen«, sagte sie leise.
»Macht nichts«, antwortete er, dann nickte er zu Ruben hinüber. »Und wer ist das?«
»Das erkläre ich dir später.«
Sie trat zu Ruben, der sich eine Schulter rieb. »Bist du verletzt?«
»Antoine hat mir beinahe den Arm ausgerissen, aber ich komme schon zurecht.«
Ein Feigling ist er jedenfalls nicht , sagte Songe.
»Was für Stümper! Von meiner Mutter hätte ich mehr erwartet!« Nicolas band seinen Zopf neu, dessen Sitz während der Flucht erheblich gelitten hatte. »Die Cherubim waren wohl alle unabkömmlich.«
»Sonst wären wir jetzt nicht hier«, sagte Julie trocken.
»Wir müssen aus der Stadt hinaus«, sagte Nicolas. »Ich bin mir sicher, dass die Seraphim vorhaben, Paris zu übernehmen, und dann gibt es hier kein Mauseloch mehr, in dem wir sicher wären.«
»Können wir nicht einfach
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