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Psychopath

Psychopath

Titel: Psychopath Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Ablow
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zog er eine Linie auf der Seite, dann eine weitere, kürzere Linie, die sich praktisch im rechten Winkel mit der ersten überschnitt. Er sah das Kreuz auf dem Papier und nahm es als Zeichen dafür, dass Gott noch immer bei ihm war. Hatte Jesus schließlich nicht den Schmerz anderer auf sich genommen? Und war das nicht auch Jonahs Ziel? War es nicht das, wonach er dürstete? Sein Kreuz zu tragen? »Weshalb hätten Sie sich auf einem gemischten College unwohl gefühlt?«, fragte er Beckwith.
    Sie antwortete nicht.
    Er musterte sie, sah das Zögern in ihrem Gesicht. »Tut mir Leid, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin. Es ist nur so, dass meine Tochter überlegt, nach Holyoke zu gehen«, log er.
    »Sie haben eine Tochter?«
    »Sie klingen überrascht.«
    »Sie tragen keinen Ehering.«
    Sie hatte ihn in Augenschein genommen. Sie näherte sich an. Jonah fühlte, wie sich sein Puls und seine Atemfrequenz verlangsamten. »Ihre Mutter und ich haben uns scheiden lassen, als sie fünf war«, sagte er. Dann gab er Beckwith diesen Talisman, den er aus Scott Carmadys Seele geholt hatte und der jetzt Teil seiner eigenen war: »Meine Frau war mir untreu. Ich bin länger mit ihr zusammengeblieben, als ich es hätte tun sollen.«
    Mehr als jene ausgedachte Enthüllung brauchte Anna Beckwith nicht, um ihr wahres Ich zu öffnen. »Ich war immer schüchtern, was Jungs anging«, gestand sie. »Ich bin sicher, das ist auch der Grund, weshalb ich nach Holyoke gegangen bin.«
    »Sie waren nie verheiratet«, sagte Jonah.
    »Sie klingen da so sicher«, erwiderte Beckwith kokett.
    Jonah malte weiter an seiner willkürlichen Wegzeichnung, um den Fluss der Emotionen zwischen ihnen nicht zu unterbrechen. »Ich habe nur geraten«, sagte er.
    »Sie haben richtig geraten.«
    »Ich selbst war auch nicht gerade für die Ehe geschaffen«, offenbarte er.
    »Ich hatte zwei Brüder«, sagte sie. »Beide älter. Vielleicht hat das ... ich weiß auch nicht.«
    Jonah hörte eine ganze Welt aus der Art heraus, wie Beckwith das Wort älter betont hatte. Es klangen Wut und Machtlosigkeit durch – und noch etwas anderes. Scham. »Sie haben sich über Sie lustig gemacht«, sagte er. Er konnte nicht widerstehen, sie abermals anzusehen. Er beobachtete, wie die Maske der Reife von ihrem Gesicht glitt und es offen und unschuldig und wunderschön werden ließ. Das Gesicht eines kleinen Mädchens. Er dachte bei sich, dass er niemals ein Kind töten könnte. Und bei diesem Gedanken verebbte der Schmerz in seinem Kopf zu einem dumpfen Gefühl.
    »Sie haben mich immerzu aufgezogen«, bestätigte sie.
    »Wie alt waren Sie?«
    »Als es richtig schlimm war?« Sie zuckte mit den Achseln. »Zehn? Elf?«
    »Und wie alt waren die beiden?«
    »Vierzehn und sechzehn.«
    Beckwith schaute plötzlich verstört drein, ganz so, wie es auch Jonahs andere Opfer getan hatten – als könne sie nicht verstehen, warum sie einem Fremden solch intime Dinge erzählte. Doch Jonah musste mehr hören. Also stocherte er weiter. »Mit welchen Schimpfnamen haben sie Sie gehänselt?« Er schloss seine Augen und wartete darauf, dass aus ihrer emotionalen Wunde das süße Gegengift für seine Gewalttätigkeit quellen würde.
    »Sie haben mich ...« Sie brach ab. »Ich will das nicht alles wieder wachrufen.« Sie atmete tief aus. »Wenn Sie mir jetzt die Wegbeschreibung geben könnten, wäre das wirklich sehr nett.«
    Jonah sah sie an. »Die Kinder in der Schule haben mich ›Schwuli‹ geschimpft und ›Weichei‹ und solche Sachen.« Noch eine Lüge.
    Sie schüttelte den Kopf. »So wie es aussieht, haben Sie’s denen mächtig gezeigt«, bemerkte sie. »Jetzt würde Sie wohl kaum noch jemand ein Weichei nennen.«
    »Nett von Ihnen, das zu sagen.« Er schaute aus dem Seitenfenster, als würde ihn die Erinnerung an seine Kindheitstraumata schmerzen.
    »Sie haben mich ... ›Pipisuse‹ genannt«, sagte Beckwith.
    Jonah wandte sich wieder zu ihr um. Sie wurde rot.
    »Ich weiß, das klingt nicht gerade wie das Ende der Welt oder so«, fuhr sie fort, »aber sie haben einfach nicht damit aufgehört. Sie haben mich einfach nicht in Ruhe gelassen.«
    Jonah saß jetzt neben der elfjährigen Beckwith, sah sie in einem marineblauen Faltenrock, einer sittsamen weißen Bluse, weißen Söckchen, Collegeschuhen. Es war kein Zufall, dass ihre Brüder sie am gnadenlosesten geneckt hatten, als sie an der Schwelle zur Frau stand, als die beiden, bewusst oder unbewusst, auf ihre Unterhöschen und die weichen Hautlappen

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