Pubertät – Loslassen und Haltgeben
er, werden niemals gefangen, vielmehr gepflegt und gefüttert. Und was danach kommt, interessiert Rune nicht. Rune spürt, dass das Fleisch unter seinem Panzer wächst, sein Panzer längst zu klein ist, er zwickt, kneift, passt nicht mehr. Und als Rune seinen Panzer nicht mehr sehen kann, wirft er ihn ab – so, wie es sein Bruder Ari schon getan hat. Aber Ari hat ihm gesagt, wie gefährlich es ohne Panzer werden könnte. «Mach dich unsichtbar», gab er Rune mit auf den Weg und verschwand. Rune wirft seinen Panzer ab. Schmackhaftes Fleisch kommt zum Vorschein, zu wenig für die Fischer, aber eine Delikatesse für die zahlreichen Feinschmecker unter dem Meeresgetier. Deshalb flieht Rune in eine Felsenhöhle, wandert ganz tief hinein, so tief, dass ihm keiner gefährlich werden kann,und ernährt sich von dem Essbaren, das er in der Höhle findet. Hier ist es warm, gemütlich, dunkel. Rune ist allein, genießt diese Einsamkeit und träumt davon, wie es alles wohl werden wird, wenn er erst mal erwachsen ist. Dann würde er – mit einem neuen Panzer – ausziehen und hinaus in die Welt gehen, dorthin, wo seine erwachsenen Verwandten leben. Es musste dort schön sein, denn er hatte seinen Bruder und andere nicht mehr wiedergesehen, nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatten. Im Dunkel der Höhle wächst das Fleisch und drum herum ein ansehnlicher Panzer. Rune fühlt sich allmählich sicherer und geschützter. Als sein Panzer fest und groß genug ist, verlässt er die Höhle, macht sich auf und davon, verlässt die verdreckte, miefige und stickige Höhle, die ihm nun zu eng ist. Rune will jetzt die Welt kennenlernen und allen seinen neuen Panzer zeigen.
Wenn ich diese Geschichte erzähle, dann nicken viele Eltern, vergleichen den Hummer mit ihrer Tochter oder ihrem Sohn, die sich auch in die Zimmer zurückziehen, unansprechbar, unansehnlich, verträumt und empfindlich sind. «Hummerhöhle», entfuhr es vor einiger Zeit einer Mutter, «Hummerhöhle, genau. So ist’s bei meiner Juliane auch: Gardinen zu, tagelang wird nicht gelüftet, halbvolle Teetassen auf dem Boden, Pizzareste, Klamotten verstreut, Juliane zerstreut. Und dann», die Mutter hält sich die Nase zu, «dieser Geruch. Da brauchst du ’ne Nasenklammer, um das Zimmer zu betreten.» – «Ich nehm ’ne Spraydose mit», ruft ein Vater dazwischen, «Frühlingsdüfte heißt das Zeug, weil man sonst den Mief nicht aushält. Tja, so einen Hummer habe ich also auch zu Hause. Hoffentlich bleibt er nicht in der Höhle, bis er vergammelt.»
Aber nicht in jedem Fall verläuft die Pubertät wie bei dem Hummer, der sich zurückzieht. Das Spektrum der Verhaltensmöglichkeiten ist groß. «Ich wünschte», kommentiert die Mutter des 1 3-jährigen Stefan, «mein Sohn hätte etwas von diesem Tierund zöge sich zurück. Aber er breitet sich aus, hinterlässt überall im Haus seine Spuren, setzt seine Duftmarken und lässt jeden an seiner Pubertät teilhaben. Ich würde ihm gerne eine Hummerfalle bauen und ihn zum Rückzug in sein Zimmer locken.» Pubertät kommt anders, als es sich Eltern denken. «Bei den beiden Ältesten hab ich die Horrorgeschichten, die ich von anderen Eltern über die pubertierenden Kinder hörte, nicht geglaubt. Ich dachte, die übertreiben maßlos. Aber dann kam der Jüngste, der Jan, in seine Jahre. Der forderte mich, tja, überforderte mich teilweise. Obwohl ich doch zwei Kinder durch die Pubertät begleitet hatte, dachte ich mit einem Mal, ich bin unfähig. Jan hat’s mir richtig gezeigt.»
Viele Eltern beziehen die Erziehungsprobleme, die in der Pubertät ihrer Kinder auftreten, auf sich, sehen sich als Schuldige, als Versager. Eltern vergleichen sich mit anderen Eltern, bei denen es vermeintlich besser, ja reibungsloser läuft. Eltern vergleichen ihre Heranwachsenden mit anderen und seufzen verzweifelt: «Warum kann mein Kind nicht auch so freundlich und hilfsbereit sein!» Aus dieser Sichtweise resultieren Ungeduld, Machtkämpfe, gegenseitige Schuldzuweisungen und ungerechte Vorwürfe. Probleme in den Eltern-Kind-Beziehungen sind während der Pubertät normal, weil sich in dieser Zeit veränderte Beziehungen aufbauen und entwickeln, weil alte Gewohnheiten zerbrechen und sich neue einstellen müssen. Die damit einhergehenden Krisen sind für Eltern eine Chance, in eine neue partnerschaftliche Beziehung zu den heranwachsenden Kindern zu treten, eine Beziehung, die nicht auf Macht, Kontrolle und Manipulation aufbaut, sondern von
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