Purgatorio
mich finden kann. Und wenn er mich verliert, weiß ich, wo ich ihn finden kann. Wir haben uns einmal verloren. Das wird nicht wieder geschehen.
Während des Wartens versuche ich zu vergessen, dass ich beklommen bin. Ein unbekannter Schwindel hüllt mich ein, und ich schiebe die Angst, in ihn hineinzufallen, mit Erzählungen wie derjenigen, die ich jetzt wiederhole, von mir. Vor sehr vielen Jahren träumte ich, sage ich zu ihr, ich sei in eine schäbige Kneipe gekommen. Im Traum war es Mittag. Neben dem Fenster sah ich Frauen deines Alters am Ende eines langen Tisches sitzen, den Blick fest auf Punkte gerichtet, wo andere Wesen wie Windstöße vorbeigingen. Die Windstöße riefen den Frauen zu, doch die hörten sie nicht. Die Frauen umarmten die Windstöße, ohne sie berühren zu können. Allmählich leerte sich die Kneipe, die Nacht brachte den Glanz des Morgens, die Sonne zog sich aus, bis sie Nacht wurde, und sowohl die Frauen wie die Windstöße umarmten einander weiter und riefen sich weiterhin vergeblich, bis sie mein ganzes Gedächtnis besetzten.
Ich wage es, die Saite zu spannen. Ich sage:
Wie ich dir schon erzählt habe, schrieb ich schließlich diesen Traum, aber auf eine noch unwirklichere Art. In meiner Geschichte bist all diese Frauen aus der Kneipe du, und die Windstöße sind das geliebte Wesen, das zurückkommt: Simón. Aber ich sehe es nicht mehr so. Jetzt muss ich diese Seiten umschreiben. Ich habe die Aufzeichnungen gelesen, die du bei Nancy gelassen hast. Ich bin aufmerksam die Akten des Prozesses gegen die Kommandanten durchgegangen. Ich werde die Tatsachen der Wirklichkeit zurückgeben, von der sie sich entfernt haben. Simón ist an diesem Abend nicht gekommen. Laut den Akten haben drei Zeugen gesehen, wie er ermordet wurde.
Simón ist nicht gestorben, unterbricht sie mich verdrießlich, als könnte, was ich gesagt habe, ihn noch einmal umbringen.
Du hast mir gesagt, er sei bei dir und heute Abend würde ich ihn kennenlernen. Wie lange sollen wir noch warten?
Das hängt nicht mehr von mir ab. Er wird tun, was er will. Ich für meinen Teil weiß, was ich tun will: Ich werde ihm folgen, wohin immer er geht. Ich liebe ihn mit jedem Tag mehr. Ohne ihn existiere ich nicht.
Ich möchte ihn gern sehen. Jemand, der eine so tiefe und so lange Liebe geweckt hat, ist ein Mensch aus einer anderen Welt.
Simón ist, was er immer war. Einer, unteilbar, unbeweglich im selben Raum, seit die Zeit Zeit ist.
Entweder höre ich nicht, was ich höre, oder Emilia zitiert unbewusst Parmenides. Ich steige in die Luft ihrer Erinnerungen hinauf und entscheide mich, mit ihnen zu gehen, wohin sie mich führen wollen. Ich frage sie: Wie lange ist es her, dass du ihm begegnet bist? Das letzte Mal, als wir uns sahen, hast du ihn noch gesucht.
Am Freitag, vor einer Woche. Wir waren allein zu Hause bis Sonntag Abend, und dann sind wir zusammen gegangen. Ich hatte Angst vor der Routine, der Wirklichkeit, der Wiederholung, die alles zerstört. Ihm war es egal, dass das Leben seinen Lauf nahm. Er ist, wie soll ich es erklären, am Ufer des Lebens und sieht, wie die Dinge sich bewegen, welken, wieder geboren werden.
Dann höre ich sie erzählen, was sie erlebt hat. Sie schildert, was ich schreiben werde: die Begegnung im Trudy Tuesday, die Rückfahrt im Altima in die North Fourth Avenue, das Vergessen des Altima auf dem Hof von Hammond, die Überraschung, dass Simón sie immer noch mit der Schönheit und Leidenschaft von vor dreißig Jahren liebt. Besser als damals, sagt sie, denn jetzt weiß er, wie ich denke, kann vorwegnehmen, was ich will. Sie erzählt vom Misserfolg ihrer Hochzeitsnacht, vom Glück der Flitterwochen, den Diensten, die Dupuy dem Aal erwiesen hat, und allem, was auf ihn folgte. Ihr idiotischer Gehorsam gegenüber den Befehlen des Vaters, der idiotische Gehorsam des Landes gegenüber dem Knallen der Militärpeitsche. Sie erzählt von den Delirien der Mutter, den Besuchen in der geriatrischen Klinik, dem zeitweiligen Aufenthalt Simóns in einer geriatrischen Klinik (vielleicht einer anderen – oder derselben), wo er die Gesetze des ewigen Mittags lernte. Ich habe schon alles, was ich im Leben wollte, sagt sie. Ich bin glücklich.
Der Bahnhof von Amtrak ist nur wenige Häuserblocks entfernt. Ich glaube, während Emilia sprach, habe ich oft das Pfeifen der Züge gehört, aber erst jetzt bringt uns das Schnauben einer Lokomotive an den Abend zurück, an dem wir nicht waren. Sie lässt die Autoschlüssel
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