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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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wurde von einem Krampf geschüttelt. Ein provisorischer Schrittmacher zwang das in Mitleidenschaft gezogene Herz, wieder zu schlagen. Das Gerät arbeitete mit Spannungswerten, die jede Herzmuskelfaser innerhalb von fünfzehn oder zwanzig Minuten mit elektrochemischen Abfallprodukten vergiftete. Mit Sauerstoff angereichertes Ersatzblut wurde in die linke Herzvorkammer gepumpt, um die Versorgung durch die Lungen zu umgehen. Das Blut wurde nur einmal durch den Körper geschickt, um anschließend durch die Lungenarterien wieder abgelassen zu werden. Ein offenes System machte weniger Probleme als ein geschlossener Blutkreislauf – zumindest kurzfristig. Die notdürftig geflickten Messerwunden in Unterleib und Brustkorb waren ein unappetitlicher Anblick, wenn die hellrote Flüssigkeit herausfloß und über die Rinnen im Operationstisch abgeleitet wurde. Aber durch diesen Vorgang drohte keine Gefahr, denn hundertmal soviel Blut wurde in jeder Sekunde absichtlich aus dem Körper abgelassen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die chirurgischen Larven zu entfernen, die ungestört weiterarbeiteten, als wäre nichts geschehen. Mit ihren Kiefern verschlossen sie die kleineren Blutgefäße und kauterisierten sie auf chemische Weise, während sie gleichzeitig das Wundgewebe säuberten und desinfizierten und blind nach nekrotischem Gewebe und Blutgerinnseln schnupperten, um sie zu verzehren.
    Die Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff und Nährsubstanzen war äußerst wichtig, aber sie konnte nicht den Zerfall rückgängig machen, der bereits eingetreten war. Die eigentliche Wiederbelebung wurde durch Milliarden von Liposomen bewirkt – mikroskopisch kleine Kapseln aus Lipidmembranen –, die zusammen mit dem Ersatzblut in den Körper geschwemmt wurden. In der Membran war jeweils ein Schlüsselprotein eingebettet, das an der Trennschicht zwischen Blutkreislauf und Gehirn aufgeschlossen wurde. Damit konnten die Liposomen aus den zerebralen Kapillaren in den interneuralen Raum vordringen. Andere Proteine bewirkten, daß die Membrane mit der Zellwand der ersten passenden Nervenzelle verschmolz, auf die das Liposom stieß. Dann wurde eine komplexe biochemische Maschinerie freigesetzt, mit der das Neuron reaktiviert, von den Abfallprodukten der ischämischen Schädigung gereinigt und vor dem Schock der Reoxigenation geschützt wurde.
    Andere Liposomen waren auf andere Zelltypen zugeschnitten: die Muskelfasern des Sprechapparats – Kehlkopf, Kiefer, Lippen, Zunge – sowie die Rezeptoren des Innenohrs. Die verschiedenen Enzyme und anderen Substanzen dienten letztlich demselben Zweck. Sie brachten die absterbende Zelle in ihre Gewalt und zwangen sie dazu, ihre Reserven für einen letzten, kurzen Aktivitätsschub zu verfeuern.
    Die Wiederbelebung war keineswegs eine glorreiche Rückkehr ins Leben. Sie war nur erlaubt, wenn das langfristige Überleben des Patienten nicht mehr berücksichtigt werden mußte, weil jede Methode, mit der man dieses Ziel hätte erreichen können, bereits versagt hatte.
    Die Pathologin warf einen Blick zum Monitor auf dem Rolltisch. Ich folgte ihrem Blick und sah unregelmäßige Gehirnwellenmuster und schwankende Balkenanzeigen, die die Meßwerte der ausgeschwemmten Toxine und Abfallprodukte darstellten. Lukowski trat erwartungsvoll vor. Ich folgte ihm.
    Der Assistent drückte auf eine Taste. Das Opfer zuckte zusammen und hustete Blut – zum Teil sein eigenes, das dunkel und klumpig war. Die Wellenmuster gingen steil nach oben, bis sie sich glätteten und regelmäßiger verliefen.
    Lukowski nahm die Hand des Opfers und drückte sie leicht – eine Geste, dir mir irgendwie zynisch vorkam, obwohl tatsächlich ein ehrliches Mitgefühl dahinterstehen mochte. Ich blickte mich kurz zum Bioethiker um. Auf heinem T-Shirt stand nun GLAUBWÜRDIGKEIT IST EINE WARE. Es war nicht ersichtlich, ob es sich um eine bezahlte Werbebotschaft oder eine persönliche Meinung handelte.
    »Daniel«, sagte Lukowski. »Danny? Können Sie mich hören?« Es gab keine sichtbare körperliche Reaktion, aber die Gehirnwellen schlugen aus. Daniel Cavolini war ein neunzehn Jahre alter Musikstudent. Man hatte ihn gegen elf Uhr bewußtlos und blutüberströmt in irgendeinem Winkel des Town-Hall-Bahnhofs gefunden, – mitsamt Uhr, Notepad und Schuhen. Es war also unwahrscheinlich, daß er einem wahllosen Raubüberfall zum Opfer gefallen war. Ich begleitete die Mordkommission schon seit zwei Wochen und hatte nur auf eine solche Gelegenheit

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