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Quarantäne

Quarantäne

Titel: Quarantäne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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Mensch, und ich wäre eine Heuchlerin, wenn ich etwas anderes sagen würde.«
    »Darf ich das so verstehen, daß Sie für Ihren Auftritt vor Gericht doch noch etwas Betroffenheit einüben werden?«
    Sie lacht, sie nimmt mir diese Bemerkung nicht übel. »Nein. Wir klagen auf Schadenersatz, nicht auf Schmerzensgeld. Es geht um die Verletzung der Aufsichtspflicht, nicht um die Gefühle der Angehörigen. Vielleicht bin ich eine Opportunistin, aber einen Meineid schwören werde ich nicht.«
     
    Auf der Bahnfahrt zurück in die Stadt mache ich mir so meine Gedanken. Könnte Martha die Entführung eingefädelt haben, um Schadenersatz zu kassieren? Daß sie auf Schmerzensgeld verzichtete, daß sie nicht ein Maximum an Profit herauszuschlagen versuchte, konnte ein bewußter Schachzug sein, um die Sympathie des Gerichts auf ihrer Seite zu haben. Doch gibt es mindestens einen schwachen Punkt in dieser Theorie: Warum hatte sie dann kein Lösegeld eingeplant? Sie hätte es gerichtlich vom Hilgemann zurückfordern können. Damit hätte sie ein plausibles Motiv für die Entführung geliefert. Warum sollte sie ein Geheimnis daraus machen, das nach einer Erklärung schreit und den Verdacht eines Betrugs geradezu auf sich zieht?
    Endlich der qualvollen, erstickenden Enge des Untergrunds entronnen, stelle ich fest, daß das Gewühl oben auf den Straßen kaum erträglicher ist. Eine Menge Leute, die sich nach Feierabend auf die Jagd nach Sonderangeboten gemacht haben – Überbleibsel des Weihnachtsgeschäfts –, Straßenmusikanten, die so untalentiert sind, daß ich mich am liebsten auf sie gestürzt und alle Buchungen ihrer kleinen Kreditkartenautomaten rückgängig gemacht hätte.
    >Du bist ein mieses Stück<, sagt Karen, und ich nicke dazu.
    Während ich auf den Sandwich-Mann zugehe, nehme ich mir ganz fest vor, keinen Blick auf ihn zu verschwenden. Aber wenige Schritte hinter ihm drehe ich mich um und starre ihn unverhohlen an. Sein gottergeben gesenktes Gesicht ist bleich wie der Tod – >Gott weiß, warum er uns weiße Haut gegeben hat!< –, und er trägt einen schwarzen Anzug, in dieser Hitze wohl das vorweggenommene Fegefeuer. Inmitten der hellgekleideten Menschen mit ihren nackten Armen und Beinen wirkt er wie ein Missionar des neunzehnten Jahrhunderts, den es auf einen afrikanischen Marktplatz verschlagen hat. Ich habe den Mann schon früher gesehen, mit denselben Tafeln auf Brust und Rücken, mit derselben beschwörenden Botschaft:
    SÜNDER,
BEKEHRT EUCH!
DAS GERICHT
IST NAH!
    Nah! Nach dreiunddreißig Jahren nah! Kein Wunder, wenn man immerzu nur auf den Boden vor seinen Füßen starrt. Was, zum Teufel, ist in seinem Kopf vorgegangen in diesen drei Jahrzehnten? Wacht er morgens auf und sagt sich – nun zum zehntausendste Mal: >Heute! Heute ist der Tag!< Das ist nicht Glauben das ist Idiotie.
    Ich stehe ein Weile da und beobachte ihn. Er geht langsam auf und ab, immer dieselbe Strecke, macht halt, wenn die Menschenflut zu stark gegen ihn anbrandet. Die meisten ignorieren ihn, aber ich sehe einen halbwüchsigen Jungen, der ihn wie aus Versehen anrempelt und zur Seite stößt. Hämische Freudeüberkommt mich, ich kann es nicht ändern, gleichzeitig schäme ich mich.
    Ich habe keinen Grund, diesen Mann zu hassen.Leute, die an das Weltgericht und das kommende Tausendjährige Reich glauben, gibt es in allen Schattierungen – von frommen Idioten bis zu raffinierten Geschäftemachern, von ausgeflippten Wassermann-Jüngern bis zu terroristischen Massenmördern. Wer zu den Kindern des Chaos gehörte, der wanderte nicht mit Reklametafeln durch die Straßen. Dieses pathetische Aufziehmännchen für Karens Tod verantwortlich zu machen ist einfach Nonsens.
    Aber es hilft nicht; während ich weitergehe, sehe ich noch immer das Gesicht des Mannes vor mir, das sich nun langsam in blutigen Brei verwandelt. Und es tut mir gut.
     
    Ich war acht Jahre alt, als die Sterne erloschen.
    Es war am 15. November 2034, zwischen 8 Uhr 11 und 8 Uhr 27 westeuropäischer Zeit.
    Mit eigenen Augen habe ich jenen kreisrunden schwarzen Fleck nicht gesehen, der an dem der Sonne entgegengesetzten Punkt der Ekliptik zu wachsen begann, als würde sich der Schlund eines kohlschwarzen kosmischen Wurms öffnen. Ein Schlund, der sich anschickte, die ganze Welt zu verschlingen. Im Fernsehen habe ich es gesehen, ja, mehr als hundert Mal und aus jeder möglichen Perspektive – aber auf dem Bildschirm schien es nichts weiter als ein billiger Effekt aus Hollywoods

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