Quarantäne
Fragen sozusagen gewerbsmäßig betrieben wird. Keine religiöse Gruppierung, die nicht rasch aus ihrem Vorrat von Glaubenssätzen etwas zum besten geben konnte. Fundamentalisten aller Bekenntnisse weigerten sich ganz einfach, die Existenz der Barriere zur Kenntnis zu nehmen. War denn das Erlöschen der Sterne als Zeichen von Gottes Zorn nicht längst prophezeit worden? Stand es nicht von altersher in den Schriften, auf die eine oder andere Art – wenn man sie nur richtig interpretierte?
Meine Eltern, überzeugte Atheisten, hatten gewiß nicht versucht, mich in irgendeinem Sinne religiös zu beeinflussen. Die Freunde meiner Kindertage wuchsen in ähnlichen Verhältnissen auf, wenn sie nicht Nachkommen indochinesischer Einwanderer waren, an denen man hie und da noch eine Spur des Buddhismus der Großeltern finden konnte. Doch was immer christliche Fundamentalisten zu sagen hatten, die englischsprachigen Medien griffen es auf, ungehindert konnte es sich auf das Publikum ergießen. Deshalb war diese Spielart des Wahnsinns diejenige, die ich von allen am besten kannte – und am meisten verachtete. Die Sterne waren erloschen! Wenn das nicht die Apokalypse war, was dann? (Genaugenommen spricht die Offenbarung des Johannes von Sternen, die auf die Erde fallen – aber zu wörtlich nehmen durfte man die Schrift nun auch wieder nicht.) Auch jene Fanatiker, die bei jeder Jahrtausend- oder gar Jahrhundertwende aus dem Häuschen geraten, fanden Gehör. Die Jahre 2000 oder 2001 waren ärgerlicherweise bar jedes Menetekels gewesen, doch ließ sich vielleicht aus 2034 etwas machen: Angenommen, die historische Datierung war ein wenig ungenau, konnte dann nicht der fünfzehnte November 2034 der zweitausendste Jahrestag des Todes und der Auferstehung des Herrn sein? Warum sollte Ostern nicht im November liegen? Es wurden allerlei Erklärungen angeboten, bis hin zu einem Rechenexempel, das man >Passah-Verschiebung< nannte. Aber ich war einfach nicht Masochist genug, um solchen Gedankengängen ernsthaft zu folgen.
Der Tag des Gerichts war gekommen – so, wie ihn jene sich vorstellten, die noch immer an die Erschaffung der Welt in sieben Tagen glaubten. Jene, die am Glauben schon immer gut verdient hatten. Und es gab ja das Fernsehen, da brauchte es keine geflügelten Reiter, damit die Geschäfte der Sekten florierten, von steuerabzugsfähigen Spenden gar nicht zu reden. Die großen Religionen gaben vorsichtige, sehr wortreiche Erklärungen ab, wonach den Aussagen der Wissenschaftler doch wohl zu trauen wäre, aber die Kirchenbänke leerten sich, die Schäflein suchten dort Zuflucht, wo es Seligkeit gegen bares Geld zu kaufen gab.
Selbst wenn man die Splittergruppen der großen Religionen nicht mitzählte, waren Tausende neuer Kulte entstanden, die nicht weniger straff und gewinnbringend organisiert waren als gewisse berüchtigte Sekten des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber während die Geschäftemacher schon absahnten, brüteten die echten Psychopathen noch vor sich hin. Es dauerte zwanzig Jahre, bis die Kinder des Chaos ans Licht der Öffentlichkeit traten, aber das ist nicht verwunderlich, wenn man weiß, wer zu ihnen gehören darf und wer nicht: Man muß am fünfzehnten November 2034 oder später geboren sein. Die Barriere, der schwarze Schlund, zeigte an, daß von nun an das Chaos regieren sollte. Es fing gleich mit einem Paukenschlag an, im Jahr 2054, indem sie das Wasserreservoir einer Kleinstadt in Maine/USA vergifteten. Mehr als dreitausend Leute starben. Heute sind sie in siebenundvierzig Ländern aktiv und haben nun schon an die hunderttausend Menschenleben auf dem Gewissen. Marcus Duprey, Gründer und selbsternannter Prophet, versorgt seine Jünger mit einer unaufhörlichen Flut von Gewäsch – halbverdaute Kabbalistik, Eschatologie auf Comic-Niveau –, aber ganz offensichtlich gibt es genug Verrückte, in deren Ohren das nach der Weisheit letzter Schluß klingt.
Schlimm genug, daß sie Häuser in die Luft sprengten, einfach so und ohne lange auszuwählen – schließlich waren sie doch Kinder des Chaos. Aber seit Duprey und siebzehn seiner Anhänger im Gefängnis saßen, betrachteten die Chaos-Jünger seine Freilassung als höchstes Ziel. Und mit diesem konkreten Ziel vor Augen verdoppelten sie ihre Anstrengungen, obwohl – oder vielleicht gerade darum – niemand ihre Forderungen zu erfüllen gedachte. Eine Eskalation ohne Ende. Was ich darüber denke, tut nichts zur Sache; es gibt aber Nächte, da läßt mich dieses
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