Quarantaene
wie ein riesiger Seestern.
Tess, dachte sie. Mein Baby. Nimm mir nicht mein Baby weg.
Siebenunddreißig
Tess stand am Rande des Schachts, der einst die O/BEK-Zylinder beherbergt hatte und der sich nun als ein schäumender Abgrund glasartigen Korallenwuchses darbot. Für einen Sekundenbruchteil konnte Chris durchaus einen gewissen Reiz in diesem Gegensatz erkennen: Tess bewegungslos in ihrem staubigen Overall und dem leuchtend gelben Hemd, während auf der Galerie rings um sie herum Ungeheuerliches passierte; Tess in den Abgrund starrend, in dem ihr Vater verschwunden war – und wohin ihm zu folgen sie offenkundig ernsthaft in Betracht zog.
Chris ging auf sie zu, bis sie ihm einen warnenden Blick zuwarf, der in seinem Gehalt unmissverständlich war.
»Tess …«
»Er ist gesprungen«, sagte sie.
Neue Geräusche erfüllten die Luft, eine Art Klirren, ein Knirschen und Mahlen; Chris hatte Mühe, sie zu verstehen. Ja, Ray war gesprungen. Sollte er ihr das bestätigen?
Noch zehn Schritte, dachte er. Zehn Schritte, dann bin ich nahe genug, sie zu ergreifen und sie von hier wegzutragen, aber zehn Schritte waren ein weiter Weg.
Ihre Schuhspitzen testeten schon mal den Abgrund.
»Ist er tot?«, fragte sie.
Alle seine Instinkte sagten ihm, dass sie nicht beschwichtigt werden wollte. Sie wollte die Wahrheit hören.
Die Wahrheit: »Ich weiß es nicht. Ich sehe ihn nicht, Tess.«
»Komm näher ran«, sagte sie. Noch ein Schritt. »Nein! Nicht zu mir. Näher an den Rand.«
Er bewegte sich langsam und ein bisschen schräg an den Abgrund heran, versuchte den Abstand zwischen ihnen unauffällig zu verringern. Als er den Rand erreichte, blickte er hinunter.
Blasse Kristalle krochen an den Wänden der Kammer empor, aber die O/BEK-Zylinder waren von perlglänzendem Nebel verschluckt. Keine Spur von Ray.
»Sie will sich nur selbst schützen«, sagte Tess.
»Sie?«
»Mirror Girl. Oder wie du sie auch nennen willst. Sie konnte sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Maschinen sie schützten. Deswegen hat sie ihre eigenen gemacht.«
Sprach Tess von den O/BEKs? Hatten sie es geschafft, ihre Umgebung selbst zu regulieren und ihre Abhängigkeit von den Menschen abzuschütteln?
»Ich sehe ihn nicht«, beklagte Tess. »Siehst du ihn?«
»Nein.« Ray war verschwunden.
»Ist er tot?«
Tess weinte nicht, aber Kummer zitterte in ihrer Stimme. Ein falsches Wort konnte ihre Verzweiflung nähren und sie über den Rand treiben. Eine offensichtliche Lüge aber würde vielleicht die gleiche Wirkung haben.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich sehe ihn nicht.«
Das war wenigstens teilweise die Wahrheit, aber es war auch ein Ausweichen, das Tess mit einem verächtlichen Blick quittierte. »Ich glaube, dass er tot ist.«
»Na ja«, sagte Chris atemlos, »es sieht jedenfalls so aus.«
Sie nickte ernst und wiegte sich hin und her.
Chris mogelte sich einen weiteren kleinen Schritt heran. Wie viele solcher abgebrochenen Bewegungen würde es noch brauchen, bis er sie packen und vom Rand wegreißen konnte? Sechs? Sieben?
»Ihm hat die Geschichte nicht gefallen, in der er lebte«, sagte Tess. Sie ertappte Chris in der Bewegung und warf ihm einen weiteren warnenden Blick zu. »Ich bin nicht Porry, weißt du. Du brauchst mich nicht zu retten.«
»Dann komm von der Kante weg«, sagte Chris.
»Ich hab mich noch nicht entschieden. Wenn man hier stirbt, dann stirbt man vielleicht nicht wirklich. Dieser Ort verwandelt sich in etwas ganz Besonderes. Das ist nicht mehr Eyeball Alley.«
Nein, dachte Chris, wohl wahr.
»Mirror Girl würde mich auffangen«, sagte Tess. »Und mich mitnehmen.«
»Aber selbst wenn es so wäre, gäbe es kein Zurück. Du würdest nie mehr wiederkommen.«
»Nein … kein Zurück.«
»Porry würde nicht springen«, sagte er.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es einfach.«
»Porry ist gestorben«, sagte Tess.
»Sie ist …« Er wollte es schon abstreiten, hielt aber rechtzeitig inne. Tess beobachtete sein Gesicht ganz genau. »Woher weißt du das?«
»Ich hab gehört, wie du mit Mom gesprochen hast.« Die letzte, die endgültige Porry-Geschichte. »Wie ist sie gestorben?«, fragte Tess.
Die Wahrheit. Was immer das bedeutete. Wo war die »Wahrheit« zu Hause, und warum war sie so verführerisch, wenn sie sich doch andererseits ständig entzog? »Ich rede nicht gern darüber, Tess.«
Sie verlagerte demonstrativ das Gewicht, von einem Fuß auf den anderen. »War es ein
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