Quasikristalle: Roman (German Edition)
und dann war es vorbei.
Er saß auf einem Haufen Ytongsteine, das Gesicht in den Händen. Als er wieder aufsah, hätte er einem fast leidtun können, auch wenn sie gleichzeitig davon träumte, ihm den Schlagbohrer durch die Kniescheibe zu drillen. Du weißt doch …, murmelte er und deutete mit der Hand ins Ungefähre, du kannst nicht einfach…
Judith setzte sich auf. Sie bemühte sich, noch ein bisschen zu schluchzen und die Nase aufzuziehen.
Papa, ich hab nicht … Xane war in jeden Ferien da … soll ich wieder absagen?
Ihr Vater schüttelte den Kopf und stöhnte. Und genau darauf hatte sie gezählt. Deshalb war es einerseits ihre einzige Möglichkeit gewesen und andererseits ein so großes Verbrechen: Es mussten Tatsachen geschaffen werden, weil ihr Vater sein Gesicht nicht verlieren konnte. Nicht nur beim Schlagen war er verlässlich. Wenn Judith Xane eingeladen hatte, konnte man nicht zurück. Xane war immer willkommen. Xanes Vater war ein bekannter Mann. Judiths Vater würde sein Gesicht nicht verlieren. Mehr war ihm kaum geblieben.
Denk dir halt was aus, sagte er, und Judith nickte. Aber mach das nicht noch einmal, sonst bring ich dich um.
Seit sie Xane kannte, kam Judith viel besser mit sich selbst zurecht. Früher hatte sie niemanden nach Hause eingeladen, hatte behauptet, dass sie von den fremden Kindern keines leiden konnte. Ihre Eltern irritierte das nicht. Die anderen Kinder blieben in dem Glauben, dass das Haus von Judiths Eltern nicht nur zu weit weg, sondern auch zu vornehm sei, als dass sie mit ihren Rotznasen und Schokoladefingern als Besucher in Frage kämen. Als ihre Schwester drei Jahre später in dieselbe Schule kam, verdichteten sich die Hinweise auf ein irgendwie exzentrisches Leben der Baer-Mädchen, weil Salome immer von unserer Villa sprach, genauso wie sie die Bäckerei ihrer Eltern als unsere Konditorei bezeichnete.
Die meisten Kinder kannten die Bäckerei Baer, die in der Nähe der Schule lag. Sie hieß vor allem wegen der hübschen Alliteration so, denn sie hatte durchaus gehobenen Anspruch. Man konnte auch sitzen und Kaffee trinken. Als Gesamtkunstwerk im Stil der Zwanzigerjahre wehrte sie sich wie Asterix gegen die Ankerbrot-und Aida-Filialen, von denen sie umzingelt war. Konditorei schien dafür keine Übertreibung zu sein. Deshalb glaubten die Kinder auch die Villa.
Doch Judith hatte nie jemanden nach Hause eingeladen, weil sie sich für die Betonmischmaschine vor der Haustür schämte, für das rot-weiße Absperrband vor dem unbenutzbaren zweiten Stock, und dafür, dass sie nicht einmal ein richtiges Bad hatten. Es gab nur eine Wanne mit Löwenfüßen, die in der Küche stand und in der ihre Mutter früher den ganzen Sonntagvormittag im warmen Wasser gelegen war und Arien gesungen hatte. Damals hatte ihr Vater noch gelächelt, bevor er zu seinen endlosen Bauarbeiten ging, für die er, wie er später murrte, ein paar Söhne gebrauchen hätte können.
Judith sehnte sich nach der Art Zuhause, wie es Xane hatte, einer spießigen Neubauschachtel voller Verlässlichkeit. Aber Xane war hingerissen gewesen, das hatte Judith sofort erkannt, an ihrer ungewöhnlich blöden Bemerkung – Pippi wohnt wirklich in der Villa Kunterbunt –, ebenso wie an ihrem Gesicht. Xanes ironische Distanz, das, was sie in Judiths Augen nicht nur anziehend, sondern auch gefährlich machte, verschwand für eine Weile, wenn sie Judith besuchte. Sie sah dann beinahe so glücklich aus wie sonst nur Claudia, wenn ihr eine Papierblume gelungen war.
Wenn Xane da war, vergaß Judith die Baumaschinen und die abblätternden Türrahmen. Xane wunderte sich nicht darüber, dass der Raum mit dem alten Flügel und dem ausgetretenen Sternparkett, in dem Judiths Mutter früher gesungen und getanzt hatte, ›gelber Salon‹ genannt wurde, und sie merkte sich, dass es theoretisch auch einen blauen Salon gab, der zurzeit als Lager für Werkzeuge und Farbkübel benutzt wurde. Bei uns zu Hause gibt es nur Zimmer, sagte Xane, rümpfte die Nase und stürzte sich kreischend, mit ausgebreiteten Armen, die Vortreppe hinunter, in den Garten hinein.
Als Xane aus dem Bus stieg, sah sie fremd aus, die Haare kürzer, die Haut gebräunt, und als Ganzes noch schmaler und größer. Dabei waren es nur ein paar Wochen gewesen. In der Hand hielt sie einen Brief, den sie anscheinend gerade geschrieben hatte. Judith tat so, als ob sie nicht wüsste, wo die nächste Trafik war. Das war weniger gelogen als eine Weigerung, nachzudenken. Als
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