Quasikristalle: Roman (German Edition)
Xane insistierte – komm schon, du wohnst hier –, wurde sie bockig, sagte nichts mehr und schoss eine leere Dose ins Gebüsch. Xane zuckte die Schultern und fragte einen Passanten.
Als sie die Briefmarke hatten, fragte Judith wie nebenbei nach dem Empfänger. Xanes Einsilbigkeit konnte ja auch das Gegenteil bedeuten, dass sie nämlich darum bettelte, gefragt zu werden. Doch hochnäsig kam zurück: Kennst du nicht.
Ich wollt nur wissen, ob du schon stirbst vor Sehnsucht nach unserer Mitzi Keuschli, stichelte Judith, und Xane stutzte und begann zu lachen.
Mitzi Keuschli, wiederholte sie, das ist ja gut! Wann ist dir das denn eingefallen? Du, unsere Mitzi kann schon melken, sie hat es mir gezeigt, nur den Trick aus ›Heidi‹, mit in den Mund spritzen, den übt sie noch.
In den Mund spritzen, quiekte Judith, bist du grauslich, und dann lachten sie und sprachen von Claudia nur noch als Mitzi Keuschli und darüber, ob sie wohl ihre blonden Schamhaare zu Zöpfen flechten konnte, und das, als alter dünner Klebstoff, musste eben vorläufig genügen.
Die Tage mit Xane vergingen kaum anders als vorher. Trotzdem fühlte Judith sich irgendwie gesichert, nicht nur stabiler, sondern auch weiter weg, wie ein Boot in fremdem Hafen. Abends blieben sie lange auf und spielten ihre paar Schallplatten, dann schliefen sie in den Vormittag hinein, lagen später im Garten, warfen mit Steinen auf die Regentonne und unternahmen einen halbherzigen Versuch, ein Baumhaus zu bauen.
Mit Judiths Vater war Xane immer gut zurechtgekommen; ihm gegenüber benahm sie sich wie ein Ausbund an Vernunft und Erwachsenheit. Wenn sie sich unterhielten, kamen sie Judith fast feindlich vor, diese beiden, die einen intakten Abstand zueinander hatten und deshalb so zivilisiert miteinander sprechen konnten wie programmierte Puppen. Sie dagegen war verwickelt, mit dem einen wie der anderen, da bekam alles eine Bedeutung, der Ton, der Ausdruck, und auch das, was fehlte.
Die Sache mit Mama wurde Xane beiläufig mitgeteilt. Judith bemerkte wieder einmal, wie sehr sie es genoss, andere lügen zu hören. Ach, übrigens, sagte Papa bei einem legeren Imbiss im Garten mit Semmeln und Würsteln und betrachtete dabei nicht Xane, sondern seine Tochter so interessiert, als hätte sie ein neues Gesicht, ich weiß nicht, ob Judith es dir schon erzählt hat, aber ihre Mutter ist ein bisschen überarbeitet. Am besten lasst ihr sie in Ruhe.
Kein Problem, sagte Xane lässig, während sie mit ihrem Würstel Kreise durch den Senf zog, wir halten uns im Hintergrund.
Super, dein Vater, sagte sie später, und wo steckt deine Mutter die ganze Zeit?
Wahrscheinlich im Bett, sagte Judith. Sie geht dafür in der Nacht spazieren.
Das braucht sie sicher, als Erholung, sinnierte Xane, vollkommen zufrieden mit sich und ihrem Einfühlungsvermögen: diese Freiheit, den Rhythmus total umzudrehen. Und Judith dachte, halt du einfach den Mund.
Sie lagen nebeneinander, quer in einer muffigen Hängematte, die Füße im Gras, und rauchten. Judith stahl ihrem Vater Zigaretten aus den Päckchen, die überall herumlagen, und nahm an, dass er das sogar wusste. Sie hortete sie im Garten, in einer gelben Blechdose mit Mohrenkopf, deren Versteck regelmäßig wechselte. Xane rauchte bemüht und unsouverän. Ihr Filter war immer feucht, sie spreizte den kleinen Finger unnatürlich ab wie alte Weiber beim Teetrinken und hüstelte.
Eigentlich darf ich gar nicht rauchen, sagte sie und schnippte den Stummel in einen Busch.
Glaubst du, ich darf, fragte Judith und zündete sich die Nächste an der vorherigen an.
Ich hab als Kind Lungenentzündung gehabt, sagte Xane, da wäre ich fast dran gestorben.
Judith schwieg.
Deswegen sind wir immer im Mai ans Meer gefahren.
Ich hab geglaubt, ihr seid im Mai gefahren, weil deine Eltern nicht fahren wollten, wenn alles voll ist?
Deswegen auch. Aber vor allem wegen meiner Lunge. Die salzige Luft im Frühling. Der Arzt hat gesagt, rauchen sollte sie später halt nie. Ich war alle paar Wochen beim Schleimabsaugen, da haben sie mir so eine Maske aufgesetzt, Lachgas, glaube ich, ich habe geheult und geschrien und den Kopf weggedreht, das war so was von brutal. Sie ließ den Satz ohne Abschluss in der Luft hängen.
Nicht weinen, sagte Judith.
Xane sprang auf und trat gegen die Hängematte. Geh scheißen, sagte sie und verschwand.
Nach einer Weile erhob sich auch Judith und spähte um die Ecke. Xane saß am Gartentisch und schrieb. Wahrscheinlich der nächste
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