Quasikristalle: Roman (German Edition)
vermutet habe: Sie hat nicht lange herumgesucht oder sich gar etwas Besonderes dabei gedacht, sondern ist ziemlich schnell auf die Seite mit unserer Nahost-Initiative gestoßen. Dort steht bekanntlich, dass ich dein Sohn bin, und es gibt einen Link zur Firma, wo man dann wiederum leicht meine Adresse findet. Also hat sie diesen Weg als Erstes versucht. Ohne Hintergedanken. Wenn deine Adresse dort gestanden hätte, hätte sie dich direkt angeschrieben. No bad feelings, Mama, okay? Niemand denkt, dass du dement bist.
Zufällig sind wir nächste Woche beide in London und haben deshalb vereinbart, dass wir uns kurz treffen und sie mir das Kuvert persönlich aushändigt. Ich habe genauso wenig Ahnung wie du, was drin sein könnte, aber gibst du mir vorher ein paar Anhaltspunkte, woher du diesen Nelson eigentlich kanntest? Ich vermute, ihr habt in der Agentur mal etwas mit ihm gemacht, bei euren berühmten Weltverbesserungskampagnen.
ICH finde das Ganze sogar sehr nett von Ms Rear. Ich meine, nicht jeder würde sich wegen eines einzelnen Umschlags die Mühe machen, oder? Das Archiv ihrer Großmutter, die eine bekannte Literaturagentin gewesen sein soll, scheint riesig zu sein … Sobald ich das Ding habe, kann ich es dir per Overnight schicken, aber ich nehme an, es reicht, wenn ich es nächsten Monat mitbringe?
Ich hoffe, es geht dir gut.
Sei umarmt,
Dein Sohn
PS: Und damit das nicht hinter den verstaubten Kuverts irgendwelcher Leute untergeht: Ich freue mich schon sehr, dich zu sehen! Ich bin gespannt auf die neue Wohnung in der »Jugendstilvilla«, obwohl ich dich an dieser Stelle noch einmal daran erinnern möchte, wie sehr du Sievering früher verabscheut hast: »Die Leopoldstadt, wenn überhaupt, dann nur in die Leopoldstadt, aber bestimmt nicht hinauf in die Weinberge, wo die aufgeblasenen Bildungsbürger promenieren!«
Und ich bin sehr neugierig auf Herrn Goldflam – und gebe hiermit zu: Allein der Name nimmt einen für ihn ein.
… Gerade fragt mich Nora, ob ich finde, dass du dich im letzten Jahr verändert hast. Was für eine Frage! Kann sich die eigene Mutter überhaupt für einen verändern? Verändert es andererseits nicht jeden ein bisschen, wenn er in eine andere (jetzt wollte ich beinahe schreiben: fremde) Stadt zieht und mit einem anderen Menschen zusammenlebt? Das sind so Fragen – wahrscheinlich, wie die meisten interessanten Fragen, nicht so umfassend zu beantworten, dass man am Ende zufrieden wäre.
Dank an meine Freunde für offene Ohren, Anteilnahme, Geduld, Zuspruch, Diskussion, Hilfe, Kritik und einigen für rettenden Unterschlupf – ohne euch wäre die ganze Mühe nur das halbe Vergnügen:
Mona Willi, Susanne Schneider, Judith Schalansky, Susanna Stern, Sibylle Weisensee-Meencke, Margit Knapp, Arpad Bondy, Regina Schilling, Helge Malchow, Joachim Otte, Michael Glawogger, Matthias Landwehr, Frank Heibert, Günter Kaindlstorfer, Pilar Croy, Peter Menasse und Tina Menasse.
Quellennachweis
Janet Frame, Dem neuen Sommer entgegen, übersetzt von Karen Nölle, C.H.Beck Verlag, München 2010
Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1964
Georg Kreisler, Zu leise für mich; CD: »Allein wie eine Mutterseele«, erschienen bei Membran/Preiser Records
Robert Pfaller, Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie, S.Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2011
Martin Gayford, Mann mit blauem Schal, Ich saß für Lucian Freud, Ein Tagebuch, Piet Meyer Verlag, Bern 2011
Mark Twain, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, übersetzt von Andreas Nohl, Carl Hanser Verlag, München 2010
Natalia Ginzburg, Die menschlichen Beziehungen. In: Nie sollst du mich befragen, Erzählungen, übersetzt von Maja Pflug, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1991 »Lua« von Bright Eyes; CD: »I’m Wide Awake, It’s Morning«, Saddle Creek Records 2004
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Band2, Rowohlt, Reinbek 1978
Siri Hustvedt, The Summer Without Men, Picador, New York 2011
Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, dtv, München 1997
Dan Shechtman, Interview mit ATS, über YouTube, ca. Min. 07:13 https://www.youtube.com/watch?v=EZRTzOMHQ4s
Das Buch
Was wissen wir wirklich über uns selbst? Und was vom anderen? In dreizehn Kapiteln zerlegt Eva Menasse die Biografie einer Frau in ihre unterschiedlichen Aspekte, zeigt sie als Mutter und Tochter, als Freundin, Mieterin und Patientin, als flüchtige Bekannte und treulose Ehefrau. Aus diesem Mosaik tritt auf magische Weise ein kühner
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