Quo Vadis
Mitteln versehen, vollkommen frei in Rom lebte. Doch Rache für selbsterlittenes Unrecht war in Vinicius’ Augen am Platze und gerechtfertigt, der Verzicht darauf seiner Geistesrichtung durchaus widerwärtig. Allerdings hatte er im Ostrianum gehört, man solle selbst seine Feinde lieben. Doch er hielt das für eine aufs Leben nicht anwendbare Theorie. Der Gedanke kam ihm, der Grund dieser Schonung liege vielleicht darin, daß die Christen heute ein Fest feierten, an dem es nicht erlaubt sei zu töten. Er wußte, daß es bei verschiedenen Völkern Tage gibt, wo sie auch einen Krieg nicht beginnen dürfen. Warum aber, wenn das richtig war, überlieferten sie Chilon nicht der Gerechtigkeit? Warum sagte der Apostel, wenn jemand siebenmal gefehlt, müsse ihm siebenmal verziehen werden? Weshalb sagte Glaukos zu Chilon: „Gott verzeihe dir, wie ich dir verzeihe“?
Und Chilon hatte an Glaukos ein Unrecht begangen, wie man sich’s schwerer gar nicht denken konnte. Wenn Vinicius bloß daran dachte, was er tun würde mit einem, der Lygia töten wollte, begann sein Blut zu sieden. Seiner Rache wäre keine Qual zu groß erschienen. Und Glaukos hatte verziehen, Ursus hatte verziehen! Ursus, der ohne Sorgen jedermann hätte töten können, da er nur den „König des Nemorensischen Haines“ zu erschlagen und dessen Platz einzunehmen brauchte! Konnte der Gladiator, der jetzt diese Würde bekleidete, weil es ihm gelungen war, den früheren „König“ zu töten, einem Manne widerstehen, dem Kroton nicht gewachsen gewesen war? Es gab nur eine Antwort auf diese Fragen: Sie hatten Chilon verschont aus Herzensgüte, wie sie zuvor kein Mensch jemals erlebt hatte, aus grenzenloser Nächstenliebe, die befiehlt, sich selber, erlittenes Unrecht, eigenes Glück und Unglück zu vergessen und nur für andere zu leben. Welchen Lohn sie dafür erhofften, das hatte er im Ostrianum zwar vernommen, doch nicht begriffen. Er dachte aber, daß es ein elendes Leben sein müsse, das nur die Pflicht kennt, Reichtum und Genuß dem Wohle anderer aufzuopfern. Was er in diesem Augenblick für die Christen empfand, war außer der Verwunderung teils Mitleid, teils sogar Verachtung. Sie kamen ihm wie Schafe vor, die früher oder später ein Wolf verzehren müßte. Seine Römernatur konnte Leuten, die sich in alles schickten, keine Achtung zollen.
Es fiel Vinicius auf, daß nach Chilons Weggang alle Gesichter vor Freude strahlten. Der Apostel trat zu Glaukos, legte die Hand auf dessen Haupt und sagte:
„In dir hat Christus triumphiert.“
Glaukos erhob seine Augen voll Hoffnung und freudestrahlend, als ob eine große Glücksempfindung ihn durchströme. Vinicius, der nur jene durch erfüllte Rachgier verursachte Freude kannte, starrte mit fieberglänzenden Augen auf Glaukos, als ob er einen Wahnsinnigen vor sich sehe. Er bemerkte, nicht ohne innere Entrüstung, daß Lygia ihre Lippen auf die Hand dieses Mannes preßte, der die Kleider eines Sklaven trug. Alles schien ihm gänzlich auf den Kopf gestellt. Ursus berichtete nun, wie er Chilon den Weg gewiesen und ihn um Verzeihung gebeten habe, falls er vielleicht seinen Knochen zu nahe gekommen sei. Der Apostel gab ihm dafür seinen Segen. Crispus sagte, es sei ein Tag voller Siege. Siege! Vinicius vergingen die Gedanken.
Doch als Lygia ihm zu trinken reichte, faßte er ihre Hand und fragte:
„Auch du mußt also verzeihen?“
„Wir sind Christen und dürfen keinen Zorn im Herzen hegen.“
„Lygia“, sagte er, „wer immer dein Gott sein mag, ich verehre ihn, weil er der deine ist.“
„Du wirst ihn aus ganzer Seele verehren, wenn du ihn erst einmal liebgewinnst.“
„Nur weil er dein Gott ist“, wiederholte Vinicius mit schwächer werdender Stimme. Er schloß die Augen, Schwäche übermannte ihn wieder.
Lygia ging hinaus, kehrte jedoch bald wieder und beugte sich über ihn, um zu sehen, ob er schliefe. Vinicius fühlte ihre Nähe und öffnete lächelnd die Augen. Sie legte die Hand sanft auf seine Lider, um ihn zum Schlafen zu bringen. Ein wonniges Gefühl durchzuckte ihn; bald aber verschlimmerte sich sein Zustand. Die Nacht war gekommen und mit ihr ein heftiges Fieber. Schlaflos folgte er jeder Bewegung Lygias.
Zuweilen fiel er in eine Art Schlummer, wobei er alles sah und hörte, was vorging, aber die Wirklichkeit verschmolz mit seinen Fieberträumen. Es war ihm, als sehe er in einem alten, verlassenen Friedhof einen turmartigen Tempel stehen, dessen Priesterin Lygia war. Sie stand auf der
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