Rabenbrüder
ich nur gezielt, um ihr zu drohen. Als sie zu schreien begann, habe ich abgedrückt.«
»Davon stirbt man nicht«, sagte Paul nach einer Pause.
»Ich hatte doch solche Angst!« sagte Achim. »Von jetzt
an würde sie mich nur noch verachten! Als sie das Bewußtsein verlor, habe ich auch ihren Kopf unter Wass...«
»Hör bitte auf, ich kann es nicht ertragen«, sagte Paul.
Für lange Zeit war es vollkommen still, auch aus dem Schlafzimmer drang kein Laut.
Er habe keine Ahnung, wie er mit dieser Last weiterleben solle, sagte Achim, da wisse wohl auch sein kluger Bruder keinen Rat. Am liebsten wäre es ihm, Paul würde die Hinrichtung eigenhändig vornehmen, alle nötigen Werkzeuge lägen ja in Reichweite.
»Bist du völlig wahnsinnig geworden?« brüllte Paul.
»Du kannst mich doch nicht auch noch zum Mörder machen! Es gibt im Grunde nur eine einzige Konsequenz für dich.« Er angelte sich erregt eine Zigarette und zündete auch eine für seinen Bruder an. Schließlich stand er auf und lief mit großen Schritten hin und her, wobei er Achims Beine mehrmals überqueren mußte.
Nach intensiver Grübelei kam auch Achim zu einer Entscheidung. Er gebe Paul sein Ehrenwort, ihn nie mehr zu hintergehen. »Noch heute nacht wird man dir einen tödlichen Unfall melden. Aber bevor ich überhaupt meinen Wagen starten kann, mußt du mir diese dämlichen Fesseln abnehmen!«
Paul brauchte ebenfalls viel Zeit zum Überlegen, bis er schließlich meinte: »Okay. So wird es wohl am besten sein. Ich muß mich aber darauf verlassen können, daß kein Unbeteiligter verletzt wird. Hast du noch einen Wunsch, bevor wir Abschied nehmen?«
»Eine Henkersmahlzeit oder die allerletzte Zigarette«, sagte Achim, »nein danke. Aber vielleicht ein Lied von
Mama? Sie sang wunderschön, als wir klein waren und alles noch gut war.«
Paul war das unheimlich, doch er wollte zu seinem Wort stehen, suchte in der CD-Sammlung und wurde fündig. Es gab ein Lied in Schuberts Winterreise, das die Mutter oft gesungen hatte: Der Lindenbaum. Die Brüder lauschten mit verzweifelter Aufmerksamkeit, als ob jedes Wort von tiefer Bedeutung sei.
Ich mußt’ auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht
Auf einmal fühlte sich Paul so zerschlagen, daß er es hinter sich bringen und zu Bett gehen wollte. Vorsichtig zerschnitt er die Strumpfhosen mit dem Tranchiermesser, begleitete seinen Bruder bis zum Auto und umarmte ihn.
Ich wendete mich nicht , summte Paul, als er wieder ins Haus trat. Musik sollte die Psyche heilen, doch seine Seele war für immer beschädigt. Nachdem er sich alle 24 Lieder der Winterreise angehört hatte, ging er schlafen. Annette war noch wach, und es kam nach vielen Monaten zu einer leidenschaftlichen Vereinigung.
Mit starren Fingern
In dieser Nacht schliefen sie nur wenig, wälzten sich herum, klammerten sich aneinander. Erst als Annette gegen Morgen hellwach wurde, schien Paul ein wenig zu schlummern. Behutsam löste sie sich aus seinen Armen und schlich ins Wohnzimmer. Dort roch es wie in einer Turnhalle, und sie riß die Fenster auf.
Die Spuren des gestrigen Debakels lagen ihr zu Füßen: Messer, Elektroschocker, Cognac, Gläser, Asche, Nüsse und ein unansehnliches Gewirr synthetischer Schlangen. 88% Polyamid, 12% Elasthan, rekapitulierte Annette, Maschinenwäsche bei 30 Grad; schnell erkannte sie allerdings, daß keine einzige Strumpfhose zu retten war.
Wo mochte Achim jetzt sein? In der vergangenen Nacht hatte Paul nur gesagt, daß sein Bruder nicht mehr hier sei, aber Annette ging davon aus, daß er ihn bei der Polizei abgeliefert hatte. Sie fühlte sich ausgelaugt wie nach einer ungeheueren Strapaze, aber auch grenzenlos erleichtert, daß die Schrecken der Nacht zu einer Wende in ihrer Ehekrise geführt hatten. Oder war es nur Pauls Reaktion auf eine Grenzsituation, die sich nie mehr wiederholen ließ?
Ausnahmsweise kochte sie so starken Kaffee wie ihre Schwiegermutter, schaffte ein wenig Ordnung, hob Messer und Schocker mit einer Zuckerzange auf und ließ bei-
de Beweismittel in eine Plastiktüte gleiten. Als Paul im Schlafanzug hereinschlurfte, erwartete ihn ein liebevolles Frühstück, und Annette zeigte ihm ihr Mitgefühl durch zaghafte Zärtlichkeit.
Bisher habe niemand angerufen, beantwortete sie seine Frage. Dann saßen sie zwar einträchtig beisammen, aber Paul gab keinen Ton mehr von sich, rührte unentwegt in seiner Tasse herum und mochte weder essen noch trinken. Plötzlich sprang er auf und lief ins Bad, wo
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