Racheakt
es da bei mir zu finden gibt, schrie er laut auf und stürzte davon. Wie erniedrigend selbst von einem miesen Vergewaltiger weggeworfen zu werden.
Von da an wusste ich, dass die Gesellschaft einen Fehler machte, in dem sie dem Aussehen zu viel Bedeutung beimaß, und ich beschloss den Menschen wieder die Augen für das zu öffnen, was tatsächlich zählt: innere Schönheit.
Ich bin sicher, Sie werden das verstehen.
Ihre Helge Jung
»Der Vergewaltiger ist vor ihr geflohen.«
»Ja. Das war wohl der Auslöser. Ob das so stimmt, kann ich natürlich nicht sagen – wir müssen uns in diesem Fall ganz auf ihre Aussage verlassen.«
»Ist das vorstellbar?«
»Durchaus. Die Reaktion des Vergewaltigers hat ja schließlich eine seit Jahrzehnten schwärende Wunde getroffen. Die psychischen Schmerzen könnten schon groß genug gewesen sein für eine solche Reaktion.«
»Sie hätte sich mir doch anvertrauen können! Sie hat doch gemerkt, dass sie mir etwas bedeutete!«
»Ich fürchte, da war es schlicht schon zu spät. Sie konnte nicht mehr umkehren. Falls es Sie tröstet: Ich habe sie in der Zeit dreimal bei unserem Prognosestammtisch in Burg getroffen. Ich fand ihre Haltung der Polizei gegenüber unvernünftig, aber das war auch schon alles! Mir ist keine Wesensänderung aufgefallen oder eine zunehmende Labilität! Sie war so, wie sonst auch. Anzeichen von Nervosität schob ich auf das öffentliche Interesse an ihrem Gutachten.«
»Ich habe noch nie so danebengetippt wie in diesem Fall. Wir haben viel zu spät daran gedacht, es könne sich um einen weiblichen Täter handeln.«
»Na, ja. Da würde ich jetzt an Ihrer Stelle nicht allzu viel daraus machen. Sehen Sie, Herr Nachtigall, bei Frauen erwarten wir nicht, dass sie ihre Opfer verstümmeln. Wir trauen ihnen so etwas nicht zu. Außerdem waren Sie ja nicht der Einzige, der auf einen männlichen Täter festgelegt war, oder? Hat auch nur einer Ihrer Kollegen widersprochen und eine Frau ins Spiel gebracht?«
Nachtigall schüttelte zögernd den Kopf.
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat doch auch Ihr ›Profiler‹ ziemlich daneben getippt, nicht?«
»Ja. Er dachte, wir suchen nach einem emotional flachen, eher dumpfen Menschen. Das war Frau Dr. Jung auf keinen Fall. Aber auch er ist natürlich von einem männlichen Täter ausgegangen.«
»Ich bin sicher, in Zukunft werden Sie nie mehr versäumen beide Geschlechter gleichberechtigt zu verdächtigen.«
Peter Nachtigall schob die eng beschriebenen Seiten in einen schmalen Hefter zurück. Dann schob er träge den Stuhl zurück und stemmte sich schwerfällig hoch.
Seine Augen brannten und hinter der Stirn spürte er ein hartnäckiges und schmerzhaftes Hämmern.
Mit schweren Schritten trottete er zur Tür, zog dabei gleichgültig sein Jackett von der Stuhllehne und verabschiedete sich von Prof. Marburg.
Wohin sollte er jetzt gehen? Zu Jule? Ins Büro?
Jule war nicht allein. Emile Couvier war ständig bei ihr. Sie hatte tapfer alle Einzelheiten ihrer Entführung zu Protokoll gegeben und nun sollte sie ruhig an der Schulter ihres Freundes entspannen. Im Grunde war der junge Mann ja auch wirklich nett und ein Vater in dieser Situation wohl gänzlich überflüssig.
Also doch ins Büro?
Das Gesprächsprotokoll konnte er auch morgen früh tippen. Und irgendwie hatte er für heute genug psychologisches Wissen abbekommen. Das musste sich erstmal setzen, sonst stand am Ende lauter wirres Zeug in seinem Bericht.
Nach Hause?
Im günstigsten Fall erwartete ihn dort eine verfressene Katze, die seinen Lieblingssessel okkupierte und für seine Probleme sicher keinerlei Interesse aufbringen konnte – im schlimmsten Fall hatte der Kater es sich sogar in seinem Bett gemütlich gemacht und er würde dem fauchenden Tier ausweichen und auf dem Sofa schlafen müssen. Im allerschlimmsten Fall hatte sich Birgit in seinem Haus für die nächsten Tage eingerichtet und wartete auf eine Gelegenheit zur Abrechnung mit ihm. Das war mehr als er ertragen konnte, beschloss Nachtigall und schüttelte sich.
Zu Sabine?
So schwanger, wie die war, gab es für sie außerhalb ihres Körpers im Moment sicher keinen gesprächswürdigen Lebensbereich. Er war schon froh, dass er Jules Verschwinden vor ihr hatte geheim halten können. Da machte es wenig Sinn sie im Nachhinein damit zu belasten.
Missmutig schlüpfte er in die Ärmel der Jacke und kämpfte sie bis über die Schultern. Allein wollte er heute Abend auf keinen Fall sein
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