Rachekuss
Flora wusste, wie sehr ihre Mutter darunter litt, wenn es zwischen Vater und Tochter krachte, hielt sie sich zurück. Noch.
Durch strömenden Regen hasteten sie mit riesigen Gepäckladungen zum Auto. Flora fröstelte. Obwohl es erst Anfang September war, hatte sie das Gefühl, dies müsste schon der berüchtigte deutsche Herbst sein, über den ihre Großmutter immer gejammert hatte. Er krieche einem nass und kalt unter die Haut und piesacke die Knochen, hatte sie behauptet. Jetzt verstand Flora, wie sie das gemeint hatte. Und in Brasilien begann bald der Frühling.
Die Fahrt vom Nürnberger Flughafen hinüber ins nahe gelegene Erlangen besserte ihre Stimmung um keinen Deut. Die Autobahn schlängelte sich an aufgeräumtem, ödem Nadelwald und großen Feldern vorbei, bevor sie sich über den Frankenschnellweg den ersten Häusern näherten. Gesichtslose Reihenhaussiedlungen und Vorgartenidyllen reihten sich aneinander. Flora versuchte, der Trostlosigkeit durch Augenschließen zu entkommen. Doch die Bilder, die hinter ihren Lidern auftauchten, machten sie noch trauriger. Sie sah sich am Strand von Rio mit seinem Himmel voller unglaublicher Wolkenformationen über den Gipfeln der »Zwei Brüder«, sie sah das Leuchten der untergehenden Sonne, die alles, die Hochhäuser, den Strand und die üppige Vegetation, in ein unwirkliches Licht versetzte. Keine 48 Stunden war das her. Die halbe Schulklasse war nach Ipanema gekommen, um sie am Posto neun, ihrem liebsten Strandabschnitt, zu verabschieden. Ana-Sophia, Christina und Luisa, ihre engsten Freundinnen, aber auch die Jungs, die im Laufe des letzten Jahres fast so etwas wie große Brüder für sie geworden waren, Joao, Guilherme, Joao Filipe. Und Elizeu, der ein bisschen mehr war als ein Bruder. Denn seine Küsse schmeckten so unglaublich süß. Zunächst saßen sie alle etwas beklommen im warmen Sand, kauften den Strandhändlern kaltes Bier ab und Dosenchampagner und schwiegen, den Blick fest aufs Meer geheftet. Später, nachdem die Jungs beim Surfen ihr Bestes gegeben hatten, als wollten sie Flora damit ein Abschiedsgeschenk machen, zündeten sie ein Lagerfeuer an und verteilten die Leckereien, die Flora unterwegs eingekauft hatte. Natürlich das brasilianische Nationalgericht – kräftig gewürzte »Acarajé«, ausgebackene Kroketten, die aus Bohnenmus bestanden, Garnelenspieße und fischgefüllte Tapioka-Fladen, Floras Favoriten »Vatapá«, Pasteten mit scharfer Soße, und für die Mädchen, die essen konnten, ohne zuzunehmen, »Pão de Queijo«, warme Käseteigkugeln. Doch eigentlich war das nebensächlich.
Flora war ungewohnt still, weil sie immer befürchtete, in Tränen auszubrechen, wenn sie etwas sagen wollte. Elizeu und Luisa bemühten sich, kleine Witze zu reißen, sie mit Anekdoten von schrecklichen Lehrern und dämlichen Klassenkameraden zum Lachen zu bringen. Aber irgendwann saßen sie zu dritt dicht nebeneinander, die Hände verschlungen und allen drei liefen Tränen die Wangen hinunter.
»Hey«, protestierte Ana-Sophia. »Es gibt inzwischen günstige Flüge hierher – und bis zum Abi ist es nicht mal mehr ein Jahr. Und dann kommst du wieder!«
»Hoffentlich«, flüsterte Flora.
»Außerdem können wir chatten und twittern und skypen und simsen und was weiß ich«, ergänzte Christina. »Und jetzt kommt – dahinten steppt der Bär.« Flora ließ sich mitziehen zu der Samba-Gruppe, die wenige Meter neben ihnen zu spielen begonnen hatte. Sie reihte sich in den Kreis der Tanzenden ein, spürte Elizeus warme Hände auf ihren nackten Schultern, tauchte ein in den Rhythmus der Töne und beschloss, ab jetzt nicht mehr zu denken. Lauthals sang sie die alten Verse mit, die ihr schon das Kindermädchen vor über zehn Jahren vorgesungen hatte: »A vida é uma praia longa«. Das Leben ist ein langer Strand.
Im ersten Moment hatte Flora das Haus ihrer Großeltern in der Hofmannstraße nicht wiedererkannt. Früher war es in einem schmuddeligen Gelbbraun gestrichen gewesen, nun strahlte es beinahe so weiß wie ihr Haus in Urca. Ein riesiger, akkurat gepflegter Garten mit einem gewaltigen Kirschbaum in seiner Mitte umgab das Gebäude. Flora erinnerte sich, wie sie als kleines Mädchen mit ihren Cousinen hier im Sommer herumgetollt war.
Auch innen hatte Theo Harnasch ganze Arbeit leisten lassen. Die großen, schweren altdeutschen Möbel waren verschwunden, aus kleinen Räumen war ein großer geworden und das Dachgeschoss ausgebaut. Überall gab es leichte helle
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