Rachekuss
gedacht, dass sie so schnell eine verwandte Seele treffen würde.
»Allerdings«, bestätigte sie. »Und vor allem…«
Aber da betrat ein ernst dreinblickender, immerhin noch ziemlich junger und gut aussehender Mann das Klassenzimmer. Er hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit einer scharfkantigen Nase, eher kleine braune Augen, ebensolche Haare, die auf Höhe seines kantigen Kinns sehr gerade abgeschnitten waren, und einen fein geschwungenen Mund, der jetzt ein Reihe blitzend weißer Zähne preisgab.
»Guten Morgen«, sagte er laut und alle ließen sich mehr oder minder stöhnend auf ihre Plätze sinken. »Pierre Edinger ist mein Name. Ich werde Sie in diesem Jahr in Ihrem Deutschkurs unterrichten und damit den letzten Teil meines Referendariates abschließen.«
»Viel Spaß«, zischte es von weiter hinten, aber Pierre Edinger ignorierte den Einwurf. Er wirkte wie jemand, der nicht allzu viel Sinn für Humor hatte. Die folgenden zehn Minuten erläuterte er den Lehrplan für das kommende Schuljahr, der neben der Beschäftigung mit deutscher Literatur der Gegenwart und des 20. Jahrhunderts auch Referate, Vorträge, sprachtheoretische Fragestellungen und Textanalysen vorsah. Carina flüsterte Flora ein »Ich kann’s kaum erwarten« zu und verzog ihren Mund zu einem spöttischen Flunsch.
Flora versuchte, Pierre Edingers Ausführungen zu folgen, aber vor Müdigkeit wurde ihr Blick starr und sie verlor sich im Betrachten der Baumwipfel vor dem Fenster. Sie hatte sich geschworen, am letzten Abend vor Schulbeginn früh ins Bett zu gehen, aber dann hatte sie mit Elizeu eine Ewigkeit geskypt und so war sie erst nach eins schlafen gegangen. Es war so schön gewesen, portugiesisch reden zu können, was ihr momentan sogar ihre Mutter verweigerte – natürlich nur, damit die Eingewöhnung leichter fiele, wie sie beteuerte.
Elizeu hatte Flora auch in Rio schon einiges bedeutet, nicht umsonst war er in den letzten Monaten der Einzige gewesen, mit dem sie häufig ins Kino gegangen war und gelegentlich rumgeknutscht hatte. Aber sie wäre nicht auf die Idee gekommen, ihn als aussichtsreichen Anwärter für eine feste Stelle in ihrem Herzen anzusehen. Natürlich war er wunderschön – seine braune Haut eine Spur dunkler als ihre eigene, seine Augen geheimnisvoll und funkelnd, die Sixpacks seiner Bauchmuskulatur perfekt geformt. Aber weil er ein gutes Jahr jünger als Flora war, hatte sie ihn nie ernstlich in Betracht gezogen. Außerdem war er beängstigend intelligent und neigte gelegentlich zum Sarkasmus.
Doch in der Fremde ihres rosa zugetünchten Prinzessinnenzimmers sehnte sich Flora nach Elizeu, als seien sie Romeo und Julia.
»Vielleicht würden Sie sich uns vorstellen«, schreckte sie Pierre Edingers sonore Bassstimme aus ihren Brasilien-Träumen.
Flora zuckte zusammen und räusperte sich verlegen. »Ähm, klar, logisch«, brachte sie hervor. »Ich heiße Flora Harnasch und äh, tja…«,… muss in diesem Provinzkaff mein Abitur machen, hätte sie am liebsten gesagt. »…freue mich über die Chance, im Heimatland meines Vaters das Abitur zu machen.« Gut geschleimt. Sie sah, wie Carina breit grinste, als habe sie genau verstanden, was Flora eigentlich hatte sagen wollen.
»Und Sie kommen woher?«, bohrte der Lehrer nach.
»Brasilien. Rio.«
»Hey«, raunte es anerkennend aus der Jungsecke.
»Hast du auch so einen geilen brasilianischen Stringbikini?«, rief ein moppeliger Typ mit glänzendem Aknegesicht.
»Oh, der junge Mann kennt sich in der brasilianischen Landeskunde aus«, spottete Pierre Edinger. »Da würde ich Sie bitten, ein kleines Referat vorzubereiten. Sagen wir – über die Geschichte Brasiliens der letzten 500 Jahre inklusive Tendenzen der modernen Gegenwartsliteratur. Für nächsten Montag, bitte. Danke schön.« Er warf Flora das erste Lächeln des Vormittags zu, was seine Attraktivität deutlich erhöhte. Der moppelige Aknetyp knallte verärgert seinen Kugelschreiber auf den Tisch, verschränkte die Arme und schwieg für den Rest der Stunde.
Carina grinste breit und sehr zufrieden. »Cooler Typ«, zischte sie Flora zu.
»Wer?«, flüsterte Flora zurück. »Die Akne-Spacke?«
»Stoffi? Quatsch, der da vorne…«
Es schien selbstverständlich, dass sich Flora und Carina nach den sechs Schulstunden gemeinsam auf den Heimweg machten, zumal sie schnell festgestellt hatten, wie nah sie beieinanderwohnten. Carina lebte mit ihren Eltern in einem der Hochhäuser an der Mozartstraße, nur zwei
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