Rachekuss
beeindruckt, als sie hörte, dass Carinas Vater der bekannte Schauspieler Fabian Grabow war, allerdings hatte Carina seit fast zehn Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm. Ihre Mutter war nach der Trennung von ihm, da war Carina gerade mal zwei Jahre alt gewesen, nach Erlangen zu Carinas Großmutter gezogen, damit sie eine Betreuung für die Kleine hatte. Das Markgrafentheater war natürlich nur ein schlechter Ersatz für die Karriere, die sie hätte in Berlin oder München machen können. Die ersten Jahre waren wohl sehr unruhig gewesen und von vielen Umzügen, verschiedenen Ersatzpapas und immer wieder Phasen im Haus der Großmutter, einer herrischen und strengen alten Frau, geprägt. Aber seit Melissa Meyer-Grabow am Erlanger Theater Udo Vollmer kennengelernt hatte, verlief das Leben von Carina in geregelteren Bahnen. Sie schien ihren Stiefvater nicht nur deshalb zu mögen, sondern weil er wohl ein lässiger Typ war, der ihr viele Freiheiten ließ und sie der Mutter gegenüber fast immer in Schutz nahm.
»Mein Vater interessiert sich, glaub ich, nicht allzu sehr für seine Kinder«, erzählte Flora. »Der ist immer nur am Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten. Klar bereitet er uns ein sorgloses Leben und so, aber manchmal hätte ich es schon ganz schön gefunden, wenn er beim Abendessen oder bei Schulaufführungen dabeigesessen wäre.«
»Ach«, Carina rutschte das türkisfarbene Kissen in ihrem Rücken zurecht, »gemeinsames Abendessen gibt es bei uns so gut wie nie. Schließlich muss vor allem meine Mutter fast immer abends arbeiten. Und tagsüber braucht sie auch viel Ruhe, morgens anstrengende Proben, abends dann die Vorstellungen.«
»Oh, nimmst du mich mal mit? Darf ich sie mal sehen?«, bat Flora. Carina nickte. »Klar, können wir schon mal machen.« Ihr Blick wanderte zum großen, schrägen Dachfenster hinaus und blieb im Wipfel des Kirschbaums hängen.
»Magst du noch einen Kaffee?«, fragte Flora. Carina reagierte nicht. Flora stupste sie an der Schulter und das Mädchen zuckte zusammen.
»Hallo?! Ob du noch einen Kaffee magst?« Sie wedelte mit der Hand vor Carinas Augen, die diese zu schmalen Schlitzen zog.
»Ach, mir ist gerade eingefallen, dass ich für meine Mutter was aus der Reinigung abholen sollte. Hätte ich fast vergessen. Darüber kann sie sich tierisch aufregen, wenn ich was nicht mache, was sie braucht. Egal, ich glaub, ich muss los. Aber es war ein schöner Nachmittag. Bald wieder, oder?«
Flora strahlte und spontan nahm sie Carina in den Arm. »Ich bin jetzt schon froh, dass ich dich kennengelernt habe«, sagte sie leise.
»Ich auch, und wie«, sagte Carina und stupste mit ihrer kleinen Nase gegen Floras.
3. Kapitel
Auszug aus dem psychiatrischen Gutachten, Prof. Dr. W. Metzler vom 02.12. d. J.:
»…Auffällig ist, dass die Beziehungen der Patientin zu Mitmenschen sehr instabil sind. Fühle sie sich in einem Moment noch hingezogen und idealisiere das Gegenüber, versuche sie im nächsten Moment, ihn durch verbale Attacken, Manipulationen usf. zu entwerten. Oft sei sie sich ihrer Handlungsweisen nicht bewusst und realisiere erst im Nachhinein, dass ihr Verhalten ihre Bezugsperson verletze…«
Es dauerte keine vier Tage, bis Flora das erste Date hatte. Mit dem hübschesten Jungen aus allen bisherigen Kursen, wie sie fand.
Carina meinte zwar, Yannik sei ein wenig undurchsichtig und Flora solle sich in Acht nehmen und sich nicht gleich das Herz brechen lassen, aber Flora stellte schnell klar, dass sie nicht vorhatte, sich zu verlieben. »Dazu hängt mein Herz noch zu sehr an Brasilien. Ich will einfach nur ein bisschen Spaß haben«, sagte sie.
Carina erzählte, Yannik sei erst zu Beginn der elften Klasse vom Marie-Therese-Gymnasium, wo es wohl irgendwelche Probleme gegeben habe, von denen aber keiner Genaueres wisse, an ihre Schule gewechselt.
Flora war durchaus nervös. Sie hatte am Abend vor ihrem Treffen nur kurz mit Elizeu über Facebook gemailt und war selbst überrascht, dass sie ihm ihr Freizeitvergnügen verheimlichte. Sie ging schließlich nicht mit Elizeu – und außerdem war er furchtbar weit weg. Er würde sicher nicht wollen, dass Flora in Deutschland nur in ihrem rosa Zimmer hockte.
In der ersten Stunde des Orchesterkurses hatte sich herausgestellt, dass Yannik und Flora die einzigen Klarinettenspieler waren. Und dass sie ähnlich gut spielen konnten. Es war, als entzünde sich ein musikalischer Dialog zwischen den beiden, den sie mit Worten fortsetzten.
»Vielleicht
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