Rachekuss
in seinem Blick, dass er gehofft hatte, du würdest zu ihm zurückkehren. Mich wollte er nicht sehen. ›Lass mich in Ruhe‹, hat er mich dann auch angefaucht. Ich weiß nicht mehr, was ich alles zu ihm gesagt habe. Ich habe angefangen mit Schmeicheleien und habe mich über Ekel bis zur Wut weitergeredet. Er tat, als wäre ich nur eine lästige Fliege, die um seinen Kopf schwirrt. Er hat das Volleyballnetz abgebaut, es zusammengefaltet und in das Regal im Geräteraum gelegt. Ich bin ihm nach. Ich habe mich dicht vor ihm aufgebaut. Ich haben seinen Schweiß gerochen. Ich wollte ihm den Schweiß von der Stirn lecken, vom Gesicht, vom Oberkörper. Ich habe meine Hände um seinen Hals geschlungen, aber er hat mich weggeschoben. Er hat gesagt, ich sei ihm nicht wichtig, nur du, Flora, du zählst für ihn. Es täte ihm leid, aber so sei es nun mal. Er hat behauptet, ich hätte alles eingefädelt, was dir passiert ist, und er würde nun zu dir gehen und dir alles erzählen. Das mit der Party und der Entführung und dem Cyber-Mobbing und der Unterhose in seiner Tasche und ich war ganz erstaunt zu hören, was ich schon alles unternommen hatte. Und ich versuchte, ihm klarzumachen, dass jede einzelne Tat ein Liebesbeweis für ihn war und dass er mich allein deshalb doch auch lieben musste, aber er lachte nur. Er lachte mich aus. Und da schrie ich ihn an, er solle in der Hölle schmoren, und ich rannte zu dem Tor und zog es herunter. Ich wollte ihn einsperren. Er sollte nachdenken über seine Taten. Aber er – er versuchte, darunter hervorzukommen. Er machte einen Hechtsprung, fast hätte er es geschafft – aber dann war er doch zu langsam und er sprang nicht weit genug und da erwischte ihn das Tor. Ich hörte, wie es knirschte. Ein zerquetschter Schrei kam noch aus seinem Mund, aber da war ich schon am Ausgang und rannte und rannte und…« Sie brach ab. Sah wieder in die Kamera. Öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Tränen traten ihr in die Augen. Auch Flora weinte und sie vermisste Yannik und auch Carina und ihr früheres Leben. Das alles war verloren. Beinahe. Sie hoffte, dass Yannick wieder ganz gesund werden würde, aber sie wusste, dass nichts sicher war. Sie ahnte, dass andere Dinge ihr Leben bereichern, anreichern würden. Die dann auch existierten neben dem Verlorenen. Aber ersetzt würde nichts werden.
Es war nun fast dunkel. Sofern es in einer Stadt wie Rio dunkel sein konnte. Die Menschenmenge am Strand wurde dichter. Flora sah auf die Uhr. Kurz vor halb acht. Sie musste sich fertig machen. Ana-Sophia und Luisa und Elizeu würden sie gleich abholen. Mit ihnen und allen anderen würde sie den letzten Abend dieses Jahres am Strand von Ipanema verbringen, am Posto neun natürlich. Zwischen all den weiß gekleideten Menschen hätte sie am liebsten Schwarz getragen, aber sie wollte zeigen, dass sie sich zugehörig fühlte. Dass auch sie, wie alle Cariocas, an Silvester Weiß tragen würde. Ihre Freunde würden ihr helfen. Wie bitter dieses süße Wort schmeckte – Freunde.
»Ein glückliches neues Jahr, Carina«, sagte sie zu dem festgefrorenen Bild auf ihrem Computer. Und sie meinte es auch so.
Danksagung
Ganz herzlich bedanken möchte ich mich bei meinen beiden Quellen zum Thema psychische Erkrankungen – Stefanie Hofmann, die mir auch sehr viel Wissenswertes über Erlangen vermittelte, und Waltraud Willer – danke euch!
Außerdem danke ich ganz herzlich Anna-Sophia Potz, die das Privileg hatte, in Rio de Janeiro aufgewachsen zu sein, und die mich an ihren vielen Erfahrungen und ihrem Wissen über diese wundervolle Stadt teilhaben ließ.
Des Weiteren danke ich sehr meiner Agentin Birgit Arteaga, die mir immer so umsichtig, schnell und herzlich mit Rat und Tat zur Seite steht, und meiner Lektorin Carola Kaiser.
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