Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
darunter durchgesickert. Der Gestank wäre auch so schon unerträglich gewesen, doch zu allem Überfluss hatte bereits der Verwesungsprozess eingesetzt.
Eines der Tücher unter der Leiche trug eine Aufschrift, weiße Stickbuchstaben auf silberfarbenem Stoff: Vita .
Lateinisch und italienisch für »Leben«. Ein monströser Sinn für Humor?
Die Eingeweide waren grünlich-braun, mit rosa und schwarzen Flecken. Die mattglänzende, gekräuselte Oberfläche deutete darauf hin, dass sie schon eine Weile trockneten. In der Wohnung war es kühl, mindestens fünf Grad kälter als draußen, wo angenehme Frühlingstemperaturen herrschten. Das Surren der schwachbrüstigen Klimaanlage ging einem nicht mehr aus dem Kopf, nachdem man es einmal wahrgenommen hatte. Das Ding machte ein Riesengetöse, seine Befestigungsschrauben waren völlig verrostet, doch es schaffte immerhin, ein wenig Feuchtigkeit aus der Luft zu ziehen und den Fäulnisprozess zu verlangsamen.
Aber da Fäulnis sich in solch einem Fall nicht vermeiden lässt, hatte die Frau eine Gesichtsfarbe, die man normalerweise nur aus Leichenschauhäusern kennt.
Mit dem Überleben nicht vereinbar.
Ich bückte mich, um mir die Wunden genauer anzusehen. Beide Schnitte waren schwungvoll ausgeführt, ohne Hinweise auf zögerliche Unterbrechungen, und hatten Hautschichten, Unterhautfettgewebe und Zwerchfell sauber durchtrennt.
Im Genitalbereich waren keine Abschürfungen zu finden, außerdem war erstaunlich wenig Blut geflossen für so eine brutale Tat. Nirgendwo waren Blutspritzer zu sehen, keine Hinweise auf einen Kampf. Nur all diese Handtücher. War hier eine zwangsgestörte Bestie am Werk gewesen?
Bilder wie aus einem Horrorfilm schossen mir durch den Kopf.
Ein extrem scharfes Messer, wahrscheinlich nicht gezackt. Der Genickbruch hatte die Frau sofort getötet. Während der Sektion hatte sie also schon im ultimativen Narkoseschlaf gelegen. Der Mörder hatte sie zuvor gründlich ausspioniert und wusste, dass er ausreichend lange ungestört sein würde. Er hatte sie sich ein für alle Mal gefügig gemacht und anschließend ihre Leiche sorgfältig in Szene gesetzt: die Handtücher ausgebreitet, geradegezupft und geglättet, bis er mit seinem Arrangement zufrieden war. Dann hatte er sein Opfer daraufgelegt, ihr das T-Shirt ausgezogen und es ordentlich beiseitegelegt, damit es nicht schmutzig wurde.
Er war einen Schritt zurückgetreten und hatte sein Werk betrachtet. Jetzt war endlich Zeit für das Messer, für den eigentlichen Spaß: die Erkundung ihrer Anatomie.
Trotz ihres verdrehten Genicks und der bestialischen Verstümmelung trug sie einen friedlichen Ausdruck im Gesicht. Aus irgendeinem Grund machte das die ganze Sache noch schlimmer.
Ich sah mich im Zimmer um. Die Eingangstür war nicht beschädigt, auch sonst gab es keinen Hinweis auf ein gewaltsames Eindringen. Vor den nackten beigefarbenen Wänden stand eine billige Polstergarnitur mit einem gerafften ockergelben Bezug, eine billige Brokatimitation. Die weißen Kugelleuchten sahen aus, als würden sie beim leisesten Fingerschnippen zu Bruch gehen.
Im Essbereich standen ein kleiner Tisch und zwei Klappstühle. Auf dem Tisch lag ein brauner Pizzakarton. Jemand – Milo wahrscheinlich – hatte ein gelbes Schildchen für die Spurensicherung danebengestellt, was mich neugierig machte.
Der Karton trug keinen Namen. Über dem stilisierten Konterfei eines beleibten Kochs mit Schnurrbart stand lediglich in auffälligen roten Buchstaben das Wort PIZZA ! Um das feiste Grinsen des Schnurrbärtigen herum gruppierten sich weitere Ausrufezeichen: Frische Pizza! Köstlich! Oh, là, là! Lecker! Guten Appetit!
Der Karton wies weder Fettflecken noch auffällige Fingerspuren auf. Ich beugte mich vor, um daran zu riechen, nahm aber keinerlei Pizzageruch war. Allerdings war meine Nase voll mit Verwesungsgestank – es würde eine Weile dauern, bis sie wieder etwas anderes als den Tod wahrnehmen konnte.
An einem anderen Tatort wäre jetzt ein Detective dagewesen und hätte einen makabren Witz gemacht: Wie nett, der Mörder hat uns was zu essen dagelassen, oder so etwas.
Doch der diensthabende Kriminalkommissar war ein Lieutenant, der in seinem Leben schon Hunderte von Morden gesehen hatte, vielleicht sogar Tausende, und der in diesem Fall trotzdem lieber draußen vor der Tür geblieben war.
Ich stellte mir vor, wie es gewesen sein könnte. Irgendein Wahnsinniger mit einer albernen Pizzabotenmütze hatte geklingelt und sich
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