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Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)

Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)

Titel: Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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    Dieser Fall war anders.
    Milos knappe Nachricht um acht Uhr morgens ließ darüber keinen Zweifel.
    Komm und schau dir das an, Alex. Hier ist die Adresse .
    Eine Stunde später hielt ich dem uniformierten Beamten am Absperrband meinen Ausweis hin. Er zuckte zusammen. »Dort oben, Doc«, sagte er und deutete in den ersten Stock eines hellblauen Zweifamilienhauses mit schokoladenbraunen Fenstern und Türen, ehe er die Hand an sein Gürtelhalfter legte, als rechnete er damit, sich jeden Moment verteidigen zu müssen.
    Es war ein älteres Haus, hübsch, im typisch kalifornisch-spanischen Stil, nur die blaue Farbe passte nicht so recht dazu. Auch die Stille war sonderbar. Die Straße war an beiden Enden abgeriegelt, drei Einsatzfahrzeuge und ein dunkelbrauner Ford LTD standen quer zur Fahrbahn. Von der Gerichtsmedizin war noch niemand da.
    »Schlimm?«, fragte ich den Beamten.
    »Man könnte es wahrscheinlich besser ausdrücken, aber das trifft es schon ganz gut.«
    Milo stand reglos wie eine Statue am oberen Ende des Treppenaufgangs, ohne die obligatorische Zigarre im Mund, ohne in seinen Block zu kritzeln, ohne Anweisungen zu knurren. Die Arme in die Seiten gestützt, sah es aus, als hätte er den Blick auf irgendeine entfernte Galaxie gerichtet.
    Seine blaue Nylonwindjacke reflektierte die Sonne nach allen Richtungen. Sein schwarzes Haar hing schlaff herab, und sein narbiges Gesicht erinnerte an vergammelten Hüttenkäse. Das weiße Hemd, das er trug, war zerknittert wie Krepppapier, und wie sich seine beigebraune Cordhose unter seinem Wanst hielt, erschloss sich mir nicht. Um den Hals trug er einen traurigen Fetzen Polyamid als Krawatte.
    Er sah aus, als hätte er sich mit verbundenen Augen angezogen.
    Als ich den Treppenaufgang betrat, um ihm entgegenzugehen, schien er mich nicht zu erkennen.
    Erst als ich nur noch sechs Stufen von ihm entfernt war, sagte er: »Du warst schnell hier.«
    »Kaum Verkehr.«
    »Tut mir leid«, sagte er.
    »Was?«
    »Dass du dir das antun musst.«
    Ich hielt die Tür für ihn auf, doch er machte keine Anstalten, sich zu rühren.
    Die Tote lag am entfernten Ende des Wohnzimmers flach auf dem Rücken. Die Küche hinter ihr war leer, auf der Theke stand nichts, und an der Tür des alten avocadogrünen Kühlschranks hafteten keine Magneten mit Fotos oder Notizzetteln.
    Die zwei Türen zur Linken waren geschlossen und mit Absperrband verklebt. Ich nahm das als Aufforderung, draußen zu bleiben. An den Fenstern waren alle Vorhänge zugezogen. Eine Neonlampe in der Küche verbreitete scheußlich künstliches Schummerlicht.
    Der Kopf der Toten war unnatürlich nach rechts verdreht. Zwischen ihren geschwollenen Lippen quoll eine dicke Zunge heraus.
    Das Genick war grotesk verbogen. Pathologen nannten so etwas gerne »mit dem Überleben nicht vereinbar«.
    Die Frau war groß und kräftig, mit breiten Schultern und Hüften. Sie war Ende fünfzig, Anfang sechzig, hatte ein grimmig vorgerecktes Kinn und kurzes, stumpfes graues Haar. Braune Jogginghosen verhüllten sie von der Taille abwärts. Ihre Füße waren nackt, die Fußnägel ungepflegt, aber kurz geschnitten. Die schmutzigen Sohlen verrieten, dass sie zu Hause meistens barfuß lief.
    Oberhalb des Hosenbundes begann, was einmal ihr Oberkörper gewesen war. Ihr Bauch war unterhalb des Nabels quer aufgeschlitzt wie bei einem dilettantisch ausgeführten Notkaiserschnitt. Ein vertikaler Schnitt kreuzte die waagerechte Inzision, sodass eine kreuzförmige Wunde entstanden war, eine klaffende Öffnung, aufgeplatzt und doch mit glatten Rändern.
    Die Eingeweide der Frau waren herausgenommen und um ihren Hals geschlungen worden wie ein dicker Winterschal. Das Ende lag an ihrem rechten Schlüsselbein. Schleimige Verdauungssäfte rannen ihr in Schlieren über die rechte Brust auf den Brustkasten. Der Rest ihrer Gedärme war neben ihrer linken Hüfte zu einem Haufen zusammengeschoben.
    Das Ganze ruhte auf einem ursprünglich weißen Handtuch, das doppelt gefaltet war. Darunter lag ordentlich ausgebreitet ein zweites, kastanienbraunes Handtuch. Vier weitere Frotteetücher bildeten einen improvisierten Schutz für den hellbeigen Teppich. Die Tücher überlappten sich an den Rändern gleichmäßig etwa zwei Zentimeter. Neben der rechten Hüfte der Frau lag ein makellos sauberes, ordentlich zusammengelegtes hellblaues T-Shirt.
    Das zweifach gefaltete weiße Handtuch hatte die Körpersekrete zum Großteil aufgesogen, dennoch war etwas auf das braune Tuch

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