Radieschen von unten
Bluse und einen knielangen braunen Rock, alles sehr adrett. Auf dem Tablett befand sich nicht nur Kaffeegeschirr, sondern zu Alex’ Entzücken auch ein Teller mit Keksen. Ihr lief schon das Wasser im Mund zusammen.
In dem Moment nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Hatte sich die Plüschkatze etwa bewegt? Wahrscheinlich halluzinierte sie schon vor Hunger. Frau Neumann versperrte ihr jetzt die Sicht auf den Sessel mit der Katze. Doch nun war eindeutig ein Miauen zu hören, und eine weiße Pfote streckte sich nach dem Gebäckteller auf dem Couchtisch.
»Nein, Napoleon. Du wartest, bis wir alle so weit sind«, sagte Anneliese Neumann mit strengem Unterton, verschwand erneut und gab den Blick auf die Katze frei, die jetzt wieder regungslos am Boden hockte.
Kein Wunder, dass Alex sie vorher für ausgestopft gehalten hatte. Katze und Kommissarin starrten nun beide sehnsüchtig die Kekse an. Gut, dass uns niemand sehen kann, dachte Alex belustigt.
Nach einigem Geklapper in der Küche erschien Frau Neumann mit einem Kuchen.
»Apfelkuchen. Den habe ich heute frisch gebacken.« Sie hob Alex ein großes Stück auf den Teller. »Und da gehört ordentlich Sahne drauf.«
Da war Alex ganz ihrer Meinung. Während sie genüsslich die Kalorien in sich hineinschaufelte, fütterte AnnelieseNeumann die Katze, die sich dicht neben ihr auf dem Sofa niedergelassen hatte, mit den Keksen. Alex fühlte sich an Lydia erinnert, die Amadeus mit Pralinen vollstopfte. Was taten die Menschen den armen Tieren nur an?
Als ob sie ihre Gedanken gelesen hätte, erklärte Frau Neumann: »Das sind Katzenleckerlis aus Haferflocken und Hühnerbrühe, natürlich ungewürzt. Die backe ich extra für Napoleon. Deswegen besucht er mich auch so gern.«
Wie zur Bestätigung legte der Kater eine Pfote auf ihren Oberschenkel und miaute so lange, bis er einen weiteren Keks bekam. Wohl bekomm’s, dachte Alex und schüttelte sich innerlich. Beinahe hätte sie sich auf Katzenleckerlis gestürzt. Pfui Teufel!
Laut sagte sie: »Also gehört die Katze gar nicht Ihnen?«
»O nein, Napoleon wohnt eigentlich nebenan. Aber seit Jo verschwunden ist, bleibt er bei mir.« Ihre Miene verdüsterte sich.
Alex zückte ihr Notizbuch. »Sie haben Herrn Wilfert am Dienstag als vermisst gemeldet. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Das war am Montagnachmittag, so gegen fünf Uhr, kurz nachdem der Manni bei ihm war. Da ist Jo mit hochrotem Kopf aus dem Haus gestürmt. Ich war gerade auf der Terrasse und habe noch hinter ihm hergerufen. Aber er hat gar nicht reagiert. Irgendetwas muss ihn sehr aufgeregt haben. Und seitdem ist er nicht mehr zurückgekommen. Da muss etwas passiert sein. Aber Ihre Kollegen wollten mir nicht glauben.« Anneliese Neumann blickte Alex vorwurfsvoll an.
»Vielleicht ist er ja zurückgekommen, ohne dass Sie es bemerkt haben«, wandte Alex ein.
»Das hätte ich doch gesehen.« Frau Neumann wies auf die breite Fensterfront, die einen uneingeschränkten Blickauf das Nachbarhaus und den Gartenweg bis zur Straße freigab.
Hier blieb wahrscheinlich nichts unbeobachtet.
»Außerdem war abends kein Licht. Und Napoleon ist am Montagabend laut miauend bei mir erschienen. Das hat er vorher noch nie getan. Sonst kommt er immer nachmittags vorbei, um sich sein Leckerli abzuholen. Meist schaut dann Jo, wo er ist, und wir trinken stets zusammen Kaffee.« Ihre ohnehin roten Wangen verfärbten sich noch einen Ton dunkler.
Da hatte wohl jemand ein Auge auf den netten Nachbarn geworfen und ihn und den Kater regelmäßig mit Selbstgebackenem gelockt.
»Könnte es nicht sein, dass Herr Wilfert verreist ist?«, fragte Alex.
»Ausgeschlossen. Das hätte er mir gesagt, schon wegen der Post und der Mülltonne. Heute wurde Biomüll abgeholt, und er hat die Tonne nicht rausgestellt. Das sagt doch schon alles. Außerdem war erst am Freitag die Beerdigung.« Anneliese Neumann schüttelte entschieden den Kopf.
Der weiße Kater starrte Alex aus seinen blau leuchtenden Augen unverwandt an. War er womöglich ein Albino?
»Was für eine Beerdigung?«, fragte Alex.
»Na, die von Hilde Wilfert, Jos Frau. Deswegen mache ich mir auch solche Sorgen um ihn. Er war am Boden zerstört. Hoffentlich hat er sich nichts angetan. Dabei geht das Leben doch weiter. Ich habe meinen Mann schon vor zehn Jahren verloren. Ich weiß, wie das ist, und habe Jo auch nach Kräften getröstet. Ein Mann braucht doch eine Frau, die sich um ihn kümmert.« Bei diesen Worten
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