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0582 - Der Totenbaum

0582 - Der Totenbaum

Titel: 0582 - Der Totenbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Kurt Giesa
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Alain Lacroix hatte noch nie ein Problem damit gehabt, abends an dem alten Friedhof vorbeizugehen. Manchmal, wenn er ein wenig Zeit hatte, unterbrach er seinen Heimweg auch, betrat den Friedhof und sprach ein Gebet an den Gräbern seiner Großeltern. Er zupfte das Unkraut aus der Erde, pflanzte hin und wieder neue Blumen und verlor sich in Erinnerungen an die Kindheit. Er war der einzige, der die Gräber noch pflegte. Die Eltern waren schon vor Jahren nach Kanada ausgewandert, und andere Verwandte gab es nicht.
    Als er heute aus dem Bus stieg, um den letzten halben Kilometer von der Hauptstraße zu seinem kleinen Häuschen zu gehen, hatte er eigentlich keine Zeit. Er war mit Verena verabredet. Aber die Tage waren heiß, und die Blumen auf den Gräbern brauchten Wasser.
    Es war schon spät, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Alans Arbeitstag dauerte von 12 bis 21 Uhr, hinzu kamen die Busfahrten nach Lyon und zurück. Er war froh, daß Verena da mitspielte. Wenn er heimkam, legten sich andere schon zu Bett, weil sie am nächsten Morgen um vier oder fünf in der Frühe Wieder aufstehen mußten.
    Seltsam, überlegte er, als er den Friedhof erreichte. Irgend etwas hatte sich verändert.
    Da war ein großer Baum, der früher nicht hier gestanden hatte.
    Aber wie sollte das möglich sein? Ein Baum taucht nicht von einem Tag zum anderen in der Landschaft auf. Er mußte über Jahrzehnte wachsen, vor allem, wenn er eine solche Größe erreichen wollte wie dieser hier. Der große, knorrige Bursche mußte ja sogar wesentlich älter sein als Alan.
    Und warum kann ich mich nicht daran erinnern, daß er schon früher hier gestanden hat? dachte Alan.
    Hatte ihn jemand hier angepflanzt?
    Aber alte Bäume verpflanzt doch niemand!
    Es gab auch keinen Grund dafür, weshalb ausgerechnet hier plötzlich ein Baum stehen mußte. Der Gemeinderat hatte nichts dergleichen besprochen. Alan hätte davon gewußt. Mangels anderer Räumlichkeiten pflegte der Gemeinderat nämlich in der einzigen Gastwirtschaft des Ortes zu tagen, und Alan war mit dem Wirt sehr gut befreundet.
    Der Boden sah auch nicht danach aus, als habe jemand ihn aufgelockert und nachträglich wieder festgestampft, um zwischenzeitlich so ein monströses Bäumchen zu pflanzen.
    »Versteh' ich nicht«, brummte Alan. Er hatte doch in den letzten drei Tagen keinen Tropfen Alkohol zu sich genommen. Und Entzugserscheinungen, die Halluzinationen bei ihm hervorrufen, hatte er bestimmt nicht. Er war ja kein Säufer.
    Was also tat dieser Baum hier?
    Eine halbe Minute später wußte er, was dieser Baum hier tat.
    Der Baum folgte ihm…
    ***
    Als es auf Mitternacht zuging, war Verena Aups schon mehr als unruhig. In den Häusern ringsum waren bereits fast überall die Lichter erloschen. Gerade knipste sogar der Wirt im ›Roulé‹ die Lampen aus.
    Und Alan war immer noch nicht hier.
    Das paßte gar nicht zu ihm. Auch wenn er noch zum Friedhof gegangen war, das bißchen Grabpflege konnte nicht so lange dauern.
    Daß er in den ›Roulé‹ gegangen war und es dort bis zum Lokalschluß ausgehalten hatte, konnte sie sich nicht vorstellen. Das paßte nicht zu ihm. Er hatte versprochen, gleich nach der Arbeit zu ihr zu kommen, und das hatte er noch nie vergessen.
    Sollte ihm etwas zugestoßen sein?
    Verenas Unruhe wurde immer stärker.
    Schließlich faßte sie den Entschluß, nach ihm zu schauen.
    Sie verließ die Wohnung und das Haus. Vorsichtshalber hatte sie sich mit einer großen Taschenlampe bewaffnet. Die spendete nicht nur Licht, man konnte damit auch einen eventuellen Angreifer abwehren. So hoffte sie jedenfalls.
    Verena wunderte sich, daß sie auf einen derartigen Gedanken kam. Die Kriminalitätsrate in Loyettes tendierte gegen Null, seit der Gendarm den Hühnerdieb erschossen hatte. Und dabei hatte sich herausgestellt, daß besagter Dieb auf vier Beinen lief und einen roten Pelz gehabt hatte.
    Sie wandte sich erst in Richtung ›Roulé‹.
    Wenn Alan doch in der Kneipe gewesen war, mußte er ihr jetzt auf halbem Weg entgegenkommen. Seine Wohnung lag nur ein paar Dutzend Meter neben dem Haus, in dem sie lebte. Es war für ihn derselbe Weg.
    Aber er kam ihr nicht entgegen.
    Baptiste, der Wirt, war schon im Pyjama und konnte guten Gewissens ihre Frage verneinen, ob Alan heute bei ihm aufgetaucht sei. »Dem wird doch nichts zugestoßen sein?« unkte er. »Soll ich den Gendarmen anrufen?«
    »Nein. Ich glaube, dafür ist es noch zu früh«, erwiderte sie und setzte ihren Weg durch die

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