Rächerin der Engel
… ich glaub’s einfach nicht! Siehst du, wer da bei ihr ist?!« Diesmal kniff sie Bree richtig fest in den Arm, direkt oberhalb des Ellbogens. Bree hasste es, gekniffen zu werden.
»Tante Cissy!«
»Ah ja?« Das reichte nach Brees Ansicht keineswegs aus, um einen tätlichen Angriff zu rechtfertigen. »Und meine Ansicht ist einiges wert«, sagte sie. »Schließlich habe ich Jura studiert.«
»Halt den Mund.« Antonias Depression hatte sich verflüchtigt, war dahingeschmolzen wie Schnee im Juli. Sie zitterte vor Aufregung. »Natürlich wird mich Cissy nicht im Stich lassen! Wenn in dieser Stadt was Wichtiges los ist, ist sie doch immer mittendrin!«
Bree hörte auf, sich den Arm zu reiben – dass Antonia sich entschuldigte, war ebenso wenig zu erwarten, wie dass sie versprach, es nie wieder zu tun –, und drehte sich auf ihrem Stuhl herum, um zu beobachten, wie Tully O’Rourke den Gang entlang auf die vordersten Sitzreihen zukam.
Wie viele Berühmtheiten wirkte sie in natura kleiner als auf dem Fernsehbildschirm. Doch sie war unverkennbar. Ihr Haar, das bereits völlig weiß geworden war, als sie Mitte zwanzig gewesen war, war zu einem strengen Bubikopf geschnitten, an dem sich seit dreißig Jahren nichts geändert hatte. Ihre Augenbrauen waren dunkel, ihre Augen noch dunkler, und sie trug die für sie typische, eng anliegende goldene Kette um den Hals. Außerdem war sie ziemlich dünn, ohne jedoch die Sehnigkeit zu besitzen, die man im Fitnessstudio erwarb. Sie plauderte ungezwungen mit Cecilia Carmichael, die ihre Bemerkungen lebhaft erwiderte. Tante Cissy, blond und noch dünner als Tully, sah durchaus wie eine Fitnessstudiotusse aus, hauptsächlich deswegen, weil sie auch eine war. Sie lebte ja praktisch im Fitnessstudio. Sie war die jüngste Schwester von Brees und Antonias Mutter, und ihr ganzer Carmichaelscher Charme, ihre ganze Carmichaelsche Weichheit waren ihr in ihrer zweiten Ehe abhanden gekommen, während ihr Mann vor einigen Jahren ebenfalls abhanden gekommen war, zusammen mit seiner wesentlich jüngeren Sekretärin.
»Ich habe doch gerade gesagt, dass ich nicht für das Savannah Rep geeignet bin, nicht wahr?« Antonia war wirklich schön – in dieser Hinsicht hatte Bree die Wahrheit gesagt, während ihre Bemerkungen zu Antonias schauspielerischem Talent nicht ganz so aufrichtig gewesen waren –, und wenn sie sich so wie jetzt gerade für etwas begeisterte, wirkte sie mit ihren blauen Augen, ihrem rotbraunen Haar und ihrem zarten Teint schlichtweg hinreißend. »Aber für die Savannah Shakespeare Players, für die bin ich geeignet.«
»Oje«, sagte Bree.
»Selbst du musst doch zugeben, dass die Players neben der Royal Shakespeare Company immer die beste Repertoiretruppe waren.«
» Selbst ich? Was soll denn das heißen?«
Antonia tätschelte Bree freundlich den Arm. »Du bist so sehr mit deinen Fällen beschäftigt, dass es mich erstaunt, dass du überhaupt weißt, dass wir November haben.«
Ihre neue Tätigkeit, die darin bestand, Tote zu verteidigen, nahm in der Tat ihre ganze Zeit in Anspruch. Das ließ sich nicht leugnen. Aber man musste schon auf dem Mond leben, um nicht zu wissen, wer die Shakespeare Players waren. Als Russell O’Rourke und seine Frau in New York gewohnt hatten, waren sie als Mäzene der üblichen Einrichtungen – Met, MoMA und New York City Ballet – hervorgetreten, doch ihr berühmtester Abstecher in die Welt der schönen Künste galt den Savannah Shakespeare Players, die sie finanziell unterstützten. Unter der Leitung eines absolut wunderbaren, extrem talentierten jungen ägyptischen Regisseurs namens Anthony Haddad hatten die Players Hamlet , Der Widerspenstigen Zähmung sowie die Heinrich-Stücke aufgeführt und waren dafür von der Kritik enthusiastisch gefeiert worden. O’Rourkes Bankrott hatte natürlich auch das Aus für die Players bedeutet.
Antonia fasste Bree bei der Hand. »Was hast du vorhin gesagt? Über Diskriminierung aus Altersgründen? Dass ich für diese alten, verstaubten Stücke, die John Allen Cavendish so heiß und innig liebt, zu jung bin? Nun, Schwesterherz, für die Stücke, die die Shakespeare Players aufführen werden, habe ich aber genau das richtige Alter. Moderne, schrille Stücke. Hochdramatisch und hochtechnologisch. Sachen, wie man sie in London und New York noch nie gesehen hat.«
»Ich hätte gedacht, dass die Shakespeare Players … na ja … eben Shakespeare aufführen«, entgegnete Bree.
»Bist du verrückt? Wie alt
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