Räuberleben
Ende August. Der Brandschutt ist unterdessen fast vollständig beseitigt, Mauern werden überall aufgezogen, Dachbalken gelegt. Hunderte von Handwerkern aus der weiteren Umgebung sind an der Arbeit; ein vielfältiger, beinahe musikalischer Lärm erfüllt tagsüber die Stadt. Alle Sulzer, die es können, leisten Handlangerdienste, auch ich schleppe nach der täglichen Schreibmühe abends noch Steine und Ziegel, bis es Nacht ist. Wir werden, selbst wenn vieles noch fehlen wird, vor dem Winter ins neu aufgebaute Haus am Mühlkanal zurückkehren können und sind dankbar dafür, dass die Zuschüsse von überall her uns vor der nackten Armut bewahren. Auch Kleider sind eingetroffen, gebrauchte zwar, aber man kann sie tragen, und sie riechen zumindest nicht nach Rauch und Ruß wie sonst alles bei uns.
Immer wieder beschleicht mich das unbestimmte Gefühl, der große Brand sei in meinem Leben ein Wendepunkt. Was aber genau zu Ende gegangen ist, was mich an Neuem erwartet, weiß ich nicht, und überhaupt scheint mir in meinem Alter die Hoffnung auf einen Neuaufbruch verwegen, ja vermessen zu sein. Ganz gewiss bedaure ich zutiefst den Verlust meiner Insektenkästen. Sie waren, wie Sie wissen, das Resultat zehnjähriger Forscher- und Sammeltätigkeit. Es braucht Kraft, damit von vorne anzufangen. Ich glaube aber, ich werde es tun, auch gegen den Willen meiner Frau, und hoffe inständig, dass ich, mein lieber Herr Professor, weiterhin auf Ihre Unterstützung zählen darf. Nie werde ich vergessen, wie Sie auf meinen ersten Brief, dem einige Exemplare von Grabwespen beilagen, in freundlichster Weise antworteten und mich zu weiteren Nachforschungen ermunterten.
Ich bin fast sicher, dass Sie anstelle dieses Berichts lieber neue Erkenntnisse über das Leben der Hautflügler am Neckar gelesen hätten. Ich kann Ihnen nur vermelden, dass die Insekten nach den Plünderern die Ersten waren, die an die verbrannten Stätten zurückkehrten, dorthin also, wo Zehntausende ihresgleichen ein Opfer der Flammen und der Glut geworden waren. Damit, verehrter Freund, drücke ich am Ende meines langen Briefs doch eine kleine Hoffnung aus.
Ihr ergebener Wilhelm Grau, Schreiber
Ludwigsburg, 23. September 1789
Ein Soldat hatte den Schreiber Grau vom Zuchthaustor über einen Streifen festgetretener Erde zum Wachgebäude geführt. Der Vorsteher der Anstalt, Kammerrat Georgii, wurde herbeigerufen und las missmutig, unter starkem Schnaufen den Empfehlungsbrief des Oberamtmanns von Sulz, den ihm Grau übergab. Eine Weile schaute er aus dem Fenster, und der Schreiber folgte seinem Blick. Durch die trüben, von Fliegendreck verschmutzten Scheiben sah er in den Innenhof, der von zwei großen, durch die Anstaltskirche miteinander verbundenen Längstrakten gebildet wurde. Am Trakt zur Rechten wurde immer noch gebaut; der Schreiber hatte den Baulärm gehört, als er, lange genug, vor dem Tor gestanden und ein ums andere Mal geläutet hatte. Noch länger zögerte der Vorsteher, bis er dem Schreiber die Besuchserlaubnis gewährte, um die Oberamtmann Schäffer in seinem Brief bat. Eine Stunde stehe Grau zu, und zwar im Beisein des Stockmeisters, der das Gespräch zu überwachen habe. Es sei ja eigentlich schon Gnade genug, dass Mutter und Tochter, deren Verbrechen jedes Christenherz erschütterten, nicht in Ketten lägen. Der Bub indessen, ein Frechling sondergleichen, werde nun wieder vom Waisenhaus ins Zuchthaus versetzt. Georgii schob den Brief von sich, als wäre es ein Häufchen Unrat, und klingelte einen Diener herbei, den er anwies, drüben im Verwaltungsgebäude frischen Kaffee für ihn aufzubrühen. Ohne Abschiedswort verließ der Vorsteher den Raum. Nicht einmal ein Glas Wasser hatte er dem Besucher angeboten.
Es dauerte erneut länger als eine halbe Stunde, bis der Stockmeister hereintrat und Grau durch einen beinahe lichtlosen Gang und über eine Treppe in den ersten Stock hinaufführte. Er öffnete die schwere Eichentür zum Besucherraum, an dessen feuchten Wänden Tropfen herunterliefen. Ein Tisch und ein Stuhl standen darin, sonst nichts. Er werde nun, sagte der Stockmeister, die zwei fraglichen Weiber herbeibringen.
Wieder die Warterei. Grau setzte sich nicht. Hier war das Fenster vergittert. Der Innenhof wirkte unter dem bedeckten Himmel leer und verlassen. Grau schneuzte sich in den Ärmel. Er verstand immer noch nicht ganz, weshalb Schäffer ihn nach Ludwigsburg geschickt hatte. Der Auftrag war vordergründig klar: Er sollte in
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