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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Künstler hatte zwischen den einzelnen Figuren keinen Abstand gelassen – aber das war nicht nur typisch für Jims Arbeitsweise, es gehörte zur künstlerischen Tradition dieses Volkes. Den indianischen Malern und Schnitzern der Nordwestküste wurde ein ausgeprägter Horror vacui – eine Scheu vor leeren Flächen – nachgesagt.
    Doch bei diesem Pfahl wies jede der Figuren eine Verbindung zur anderen auf. Die Klauen des Wolfs verschmolzen mit den Flügeln des Raben, die Beine des Otters wurden zu den Armen des Bären und die Rückenflosse des Wals verschwand im Bauch des Bären. Das war typisch für Jims Arbeitsweise. Auf diese Art verdeutlichte er die Fähigkeit der Figuren zur Transformation.
    Wie gebannt starrte Hanna auf den Pfahl. Sie hatte das Gefühl, als würde Jim Kachook jeden Moment dahinter auftauchen. Sie musste nur stehen bleiben und auf ihn warten.
    Schließlich gab sie sich einen Ruck und folgte Greg die Stufen hinauf zur Veranda. Es war ganz normal, dass dieser Hauspfahl sie an Jims Arbeiten erinnerte. Jim stammte schließlich aus Neah Bay und hier hatte er auch das Schnitzen gelernt. Sein Meister, Matthew Ahousat, war ein angesehener Mann, ein bekannter Holzschnitzer. Vermutlich hatte der Meister neben seiner Kunst und seinen Fertigkeiten auch ein paar stilistische Eigenheiten an Jim weitergegeben.
    Greg schloss die Eingangstür auf und ließ Hanna hinein. Von außen hatte das Haus den Eindruck einer primitiven Fischerhütte gemacht, aber das Innere war unerwartet geräumig und bot allen Komfort, den man zum Leben brauchte. Sie standen in einer offenen Diele, von der aus vier Holzstufen in den tiefer liegenden Wohnraum führten. Ein großes Panoramafenster, das bis auf den Boden reichte, öffnete den Blick zu einer sandigen Bucht.
    Nachdem Greg sich ächzend seiner Turnschuhe entledigt hatte, öffnete er eine Tür rechts neben ihr, die in ein voll ausgestattetes Badezimmer führte.
    »Nehmen Sie ein heißes Bad«, sagte er, »damit Sie warm werden. Saubere Handtücher sind im Regal.«
    Unschlüssig stand Hanna in der Tür und blickte sehnsüchtig auf die Badewanne.
    Greg wurde allmählich ungeduldig. »Nun machen Sie schon. Die Tür hat einen Riegel.«
    Riegel war das Zauberwort. Hanna zerrte ihre Schuhe von den Füßen und verschwand im Bad. Sie schloss die Tür ab und quälte sich aus ihren nassen Kleidern. Fünf Minuten später saß sie in der Wanne, erholte sich von dem Schrecken und wärmte ihre Glieder. Schaumkronen türmten sich auf der Oberfläche. Als sie das Wasser abdrehte, hörte sie Greg in der Diele mit jemandem sprechen.
    »Ich weiß, dass das Geländer neu war, Oren. Aber sie ist nun mal da runtergefallen … Nein, sie ist okay … nichts passiert.«
    Eine Pause entstand und Hanna wurde klar, dass Greg telefonierte. Vermutlich sprach dieser Oren (wer auch immer das war) am anderen Ende der Leitung.
    »Ja, verdammtes Glück«, erwiderte ihr Retter. »Sie ist nur ein Fliegengewicht, sonst hätten die Wurzeln viel eher nachgegeben und sie wäre auf die Uferfelsen geschlagen. Du musst den Pfad zum Kap schnellstens absperren lassen, Chief.«
    Hanna hörte Greg laut niesen, danach war es still. Er hatte aufgelegt.
    Fliegengewicht, dachte sie empört.
    Aber das Telefonat hatte ihre letzten Ängste, in die falschen Hände geraten zu sein, zerstreut. Offenbar hatte Greg mit dem örtlichen Hüter des Gesetzes gesprochen. Mit ihrem Misstrauen hatte sie sich lächerlich gemacht. Hanna hoffte, Greg würde es nicht persönlich nehmen.
    Hanna spürte, wie sich ihr Körper im heißen Wasser langsam entkrampfte. Die Spannung in Rücken und Nacken löste sich und zuletzt auch in ihrem Kopf. Sie hätte ewig so liegen bleiben können, in diesem duftenden, warmen Mikrokosmos, losgelöst von der realen Welt. In diesem Moment war Deutschland so weit weg, als hätte sie es schon vor einer Ewigkeit verlassen und nicht erst am Tag zuvor.
    Während sie sich abtrocknete, sah sie sich im Badezimmer um. Sie hatte recht gehabt mit ihrer Vermutung – augenscheinlich lebte Greg allein. Keine Spur von einer Frau oder Kindern im Badezimmer. Auf der Ablage vor dem Spiegel lagen eine Zahnbürste und Rasierzeug. Sie suchte nach einem Föhn, fand aber keinen und in den Schränken wollte sie nicht nachsehen.
    Barfuß und nur bekleidet mit einem dunkelblauen Bademantel, der so groß war, dass sie beinahe darin verschwand, machte Hanna sich auf die Suche nach ihrem Lebensretter. Auf der anderen Seite der Diele entdeckte

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