Rain Song
zu finden. In seinem Inneren kam etwas zum Fließen. Völlig entrückt hörte er auf das Material und die Stimmen in sich selbst. Der Bär am Fuße des Pfahls war schon deutlich zu erkennen. Auch die Flügel des Raben hoben sich gut erkennbar vom darunterliegenden Holz ab. Greg machte sich daran, die Augen des Raben hervorzuheben, denn mit den Augen seiner Tiere würde der Pfahl sehen können.
Hanna saß schon seit einer Stunde auf einem Holzklotz und beobachtete Greg bei seiner Arbeit, aber er hatte sie noch nicht bemerkt.
Er schien nicht mehr von dieser Welt zu sein. Wie in Trance schnitzte Greg, der Schweiß floss in Strömen über seine Stirn. Ein Rabe flog heran und ließ sich am oberen Ende des Stammes nieder, dort, wo sein Ebenbild im Entstehen war. Der Vogel stieß einen knarrenden Laut aus und hüpfte über die geschnitzten Figuren, bis er bei Greg angelangt war. Hanna schlang die Arme noch fester um ihre angezogenen Knie und wagte sich kaum zu rühren.
Sie sehnte sich danach, Greg zu begrüßen, ihn zu berühren, doch sie wusste, dass sie ihn jetzt nicht stören durfte.
Auf seinen Armen zeichneten sich scharf die Muskeln ab, wenn er das gerade Messer ansetzte, um tiefe Schnitte zu machen. Hanna beobachtete seine fließenden Bewegungen während des Schnitzens. Sie waren voller Anmut, wie ein Tanz. Es war kein Arbeiten, sondern das Feiern einer Zeremonie. Gregs schwarzes Unterhemd klebte vor Schweiß. Manchmal hob er den Kopf und sah in die Richtung, in der Hanna saß. Aber er erkannte sie nicht, sondern schien durch sie hindurchzublicken.
Angst und Zweifel überkamen sie und der Gedanke davonzulaufen, zurück in eine Welt, die ihr vertraut war. Würde sie Greg Ahousat je wirklich verstehen? Konnte sie ihm geben, was er bisher bei keiner anderen gefunden hatte? Nahm er sie überhaupt wahr?
Doch als die Sonne hoch am Himmel stand und die verschiedenen Tierfiguren auf dem Pfahl schon ganz deutlich zu erkennen waren, schien Greg sich daran zu erinnern, dass es noch eine andere Welt gab. Er hielt in seiner Arbeit inne, blickte zu Hanna hinüber und diesmal sah er sie.
Hanna spürte, wie schwer es ihm fiel, in die Gegenwart zurückzufinden, so weit war diese Reise. Er legte sein Werkzeug aus den Händen und rieb sich mit seinem Hemd den Schweiß aus der Stirn. Dann nahm er seine Wasserflasche, ging um den Pfahl herum und blieb vor Hanna stehen.
»Du bist da«, sagte er.
»Ja«, sagte sie. »Aber was ist mit dir?«
Greg lehnte sich gegen den Pfahl, setzte die Flasche an und trank sie leer. »Heute Nacht war ich mit Jim hier«, sagte er schließlich und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Er hat mir sein Werkzeug vermacht und mich aufgefordert zu schnitzen. Er hat mir zugesehen und mich angeleitet. Manchmal half er mir auch.« Er legte die leere Flasche zur Seite. »Die Tiere auf dem Pfahl sind lebendig geworden und an den Rand des Himmels gewandert.«
»Dann bist du jetzt ein Pfahlschnitzer mit einer Vision«, sagte Hanna und lächelte, in der Hoffnung, ihre Angst würde nicht durchscheinen. »Ich freue mich für dich, Greg.«
Er legte den Kopf schief wie der Rabe, der immer noch auf seinem hölzernen Ebenbild hockte. »Was glaubst du«, fragte er, »könntest du es hier mit mir aushalten – nach allem, was passiert ist?« Seine dunklen Augen funkelten im Sonnenlicht.
Hanna schluckte, ihr Körper bebte, das Herz drohte ihr aus der Brust zu springen. Es war der Rhythmus von diesem wunderbaren Stück Erde, der durch Menschen und Dinge gleich stark strömte. Er erfasste sie und verjagte die Zweifel. Hanna hatte einen Blick in Abgründe getan, aber sie würde nicht fliehen. Jims Tod gehörte jetzt zu Neah Bay, genau so, wie ihr und Olas zukünftiges Leben dazugehörte.
»Ich kann es versuchen«, sagte sie.
Da erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht.
»Wirst du Ola ein guter Vater sein, Greg?«
»Ich werde sie lieben, wie er es getan hätte, das verspreche ich dir.«
Hanna sah ihn an und wusste, dass er die Wahrheit sagte. Und wenn die Schatten der Vergangenheit erneut nach uns greifen?,dachte sie.
Als ob Greg ihre Gedanken lesen konnte, nahm er ihre Hände, zog sie zu sich heran und umarmte sie fest.
Nachwort
Der Blick von Cape Flattery im Bundesstaat Washington ist atemberaubend, das Geländer ist fest.
Selbstverständlich handelt es sich bei Rain Song um einen Roman. Alle Figuren und Ereignisse sind frei erfunden. Auch an die Darstellung von Schauplätzen, geschichtlichen
Weitere Kostenlose Bücher