Ein Ballnachtstraum
1. KAPITEL
London 1815
Lord Drake Boscastle musste noch knappe zwei Stunden auf dieser tödlich langweiligen Abendgesellschaft ausharren. Erst dann konnte er sich zu seinem Rendezvous mit einer der begehrtesten Schönheiten Europas davonschleichen. Falls dieses Treffen für ihn günstig verlief, wäre die gefeierte englische Kurtisane Maribella St. Ives demnächst seine neue Mätresse. Er konnte nur hoffen, dass all sein Werben um die Gunst der wählerischen Dame sich lohnte, sonst stünde er da wie ein kompletter Narr. Sehr zu seinem Leidwesen hatte er einen ganzen Monat mit ihr korrespondieren und ein kleines Vermögen für Geschenke aufwenden müssen, um Miss St. Ives von der Ernsthaftigkeit seiner Absichten zu überzeugen. Maribellas Privatdetektive hatten überdies sorgfältig Erkundigungen über ihn eingezogen. Drake war sogar zu Ohren gekommen, dass sein Koch darüber ausgehorcht worden war, welche Speisen sein Herr zum Dinner bevorzugte.
Seine indigoblauen Augen blitzten spöttisch. Eine sorgsame Untersuchung seiner Vergangenheit hätte zahlreiche Skandale und Indiskretionen zutage gefördert. Allem Anschein nach ließ Miss St. Ives sich allerdings nicht von seinem schlechten Ruf als enfant terrible beirren, den er in den Kreisen der Gesellschaft genoss, und seine Qualifikationen entsprachen offenbar den Ansprüchen, die sie an ihren zukünftigen Gönner stellte. Jedenfalls hatte Drake von ihr eine Einladung erhalten, sich später am Abend in einem Privatkabinett von Audrey Watsons Herrenclub in der Bruton Street einzufinden. Der Name des Etablissements war eine beschönigende Bezeichnung für das exklusive Bordell, das die unumstrittene Königin der Londoner Halbwelt leitete.
In weiser Voraussicht hatte sein Kammerdiener ihm ein paar persönliche Dinge sowie Kleider zum Wechseln eingepackt, ohne zu fragen, ob Seine Lordschaft beabsichtigen würde, die Nacht außer Haus zu verbringen. Drake erhoffte sich indes, die ganze Woche nicht nach Hause zu kommen. Seltsamerweise hatten die Zerstreuungen eines Lebemanns seit geraumer Zeit ein wenig an Reiz eingebüßt, auch Vergnügungen sinnlicher Natur waren schal geworden. Irgendwie hatte er keinen rechten Spaß mehr am Leben, ohne den genauen Grund dafür nennen zu können. Jedenfalls spielte er bereits mit dem Gedanken, zurück zur Armee zu gehen, falls auch die Affäre mit Maribella sich als unbefriedigend erweisen sollte.
„Zählst du bereits die Minuten?“, wurde Boscastle von seinem jüngeren Bruder Lord Devon aufgezogen.
Spöttisch ließ Drake den Blick durch den Saal schweifen. Er betrachtete eine Gruppe blutjunger Debütantinnen, die miteinander tuschelten und Devon heimlich mit schmachtenden Blicken bedachten, weil der mit seinem heiteren Charme weniger bedrohlich wirkte als sein verschlossener älterer Bruder. „Mittlerweile bin ich schon im Sekundentakt angelangt“, antwortete Drake trocken.
Devon dämpfte die Stimme. „Erkundige dich bitte, ob Miss St. Ives eine Schwester hat, die einen Beschützer sucht. Natürlich nur, wenn du in ihrer Gegenwart überhaupt fähig bist, zusammenhängende Sätze zu formulieren.“
Drake lächelte sarkastisch. „Es ist anzunehmen, dass ich die halbe Nacht mit Reden verbringe. Wusstest du nicht, dass die Dame für ihre Bildung und ihre geistreichen Gespräche berühmt ist?“
„Und deshalb interessierst du dich für sie? Um geistreiche Gespräche mit ihr zu führen?“
Drake versetzte seinem Bruder einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. „Verschwinde und tanz endlich mit den Debütantinnen, Devon. Sie verzehren sich vor Sehnsucht nach dir.“
„Ich kann doch nicht mit allen gleichzeitig tanzen. Wieso hilfst du mir nicht dabei?“
Drake schüttelte amüsiert den Kopf. „Die Unschuldslämmer überlasse ich dir. Im Übrigen will ich meine Kräfte schonen.“
Ein gemeinsamer Freund schlenderte heran. „Bei der Pferdeauktion morgen werden wir dich vermutlich nicht zu Gesicht kriegen, Boscastle“, bemerkte er neidisch. „Du verdammter Glückspilz.“
Drakes Lachen ging in den munteren Klängen eines ländlichen Tanzes unter. Halbherzig sah er sich nach einer Tanzpartnerin um. Er hätte lieber mit der Schwester oder der Gemahlin eines Freundes getanzt, statt mit einer schüchternen Debütantin, die ihn in stummer Anbetung anschmachtete oder ihm mit ihrem hohlen Geplapper an den Nerven zerrte.
Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit von einer jungen, ansehnlichen Brünetten in einem schlichten
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