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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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wie eine zweite Haut an seiner Brust und Hanna starrte auf seine muskulösen braunen Arme. Noch jetzt spürte sie den harten Griff seiner Hände unter ihren Achseln.
    Sie zog die Jacke vor ihrer Brust zusammen. Greg schaute sie nicht an. Er steuerte das Boot nach links um die Landspitze herum. Sein Ziel war ganz offensichtlich nicht Neah Bay, sie fuhren in Richtung Süden.
    Wo brachte er sie hin?
    Ein neuer Kälteschauer kroch ihren Nacken hoch und sie musste wieder niesen. Ihr Blick fiel auf das Messer zu ihren Füßen und auf einmal fühlte Hanna sich wie die Muscheln im Eimer: als Beute. Vielleicht hatte der Indianer sie nur aus dem Wasser gefischt, um …
    Mach dich nicht lächerlich, okay!
    Hanna schätzte Greg auf Anfang dreißig. Bestimmt war er verheiratet und hatte eine Schar Kinder. Doch als sie den Eimer mit den Muscheln ansah, schwand ihre Zuversicht. Damit konnte man keine Familie ernähren. Das war die Ausbeute eines einsamen Feinschmeckers.
    »Wohin bringen Sie mich?«, fragte Hanna, entschlossen, sich nicht von ihren Ängsten verrückt machen zu lassen.
    »Sie müssen so schnell wie möglich Ihre nassen Kleider loswerden, sonst holen Sie sich den Tod«, sagte Greg. »Mein Haus steht am Sooes Beach. Dort können Sie sich aufwärmen. Danach bringe ich Sie zurück zu Ihrem Wagen.« Seine Mundwinkel zuckten spöttisch, als er ihre krampfhaft ineinander verschlungenen Finger sah. »Keine Angst, ich habe nicht vor, Sie als Nachtisch zu verspeisen.« Kleine Funken sprühten aus seinen dunkelbraunen Augen.
    Ein mattes Lächeln huschte über Hannas Gesicht. Sie hatte gehofft, er würde ihre Gedanken nicht lesen können.
    Die felsige, von Klippen beherrschte Küste schien endlos. Sie war von rauer, nackter Schönheit. Überall Vogelnester. Auf einer Klippe entdeckte Hanna eine Robbe mit ihrem Jungen. Der Steilküste folgte eine Bucht mit einer Flussmündung. Das musste der Waatch River sein. Weiter hinten, versteckt hinter Bäumen, graue Holzhäuser. Hanna kramte in ihrem Gedächtnis: die Siedlung Waatch.
    Nach der Flussmündung begann ein langer Strand. Eine Frau war mit ihrem Hund unterwegs. Das war Hobuck Beach mit seinem Campingplatz. Wenig später tuckerte das Boot an einer sandigen Landzunge vorbei, die die Form eines Halbmondes hatte.
    Das alles war wunderschön, aber Hanna fror immer mehr. Sie wollte gerade fragen, wo denn nun das rettende Haus stand, als sie im Küstenwald etwas blinken sah und Greg das Boot an Land steuerte. Er half Hanna heraus, klappte den Außenbordmotor nach oben und zog das Boot so weit auf den Strand, dass die Flut es nicht mehr erreichen konnte. Dann holte er das Messer und den Muscheleimer aus dem Boot.
    »Kommen Sie«, sagte er, »es ist nicht mehr weit.«
    Greg lief voran. Sein Gang war schwankend, als wäre er betrunken, bis Hanna merkte, dass er leicht humpelte. Hoffentlich hatte er sich bei seinem Rettungsmanöver nicht am Bein verletzt.
    Sie folgte dem Indianer über den Strand, vorbei an wirren Haufen von Treibholz und zwischen großen entwurzelten Stämmen hindurch. Sonne und Salzwasser hatten das Holz silbrig grau ausbleichen lassen. Gespenstisch ragten die mächtigen Wurzeln in den Himmel. Wie gewaltig mussten die Kräfte gewesen sein, die diese Bäume aus ihrer Verankerung gerissen hatten?
    Hanna blieb kurz stehen. Obwohl sie nass war und fror, umfing sie die Magie dieses Landes, einer Welt, die sie nur aus Jims Erzählungen kannte. Doch das Gefühl verflüchtigte sich auf der Stelle, als sie an ihren Zustand dachte und daran, dass sie hergekommen war, um einen Strich unter ihre Wünsche und Erinnerungen zu ziehen, die mit diesem Land verwoben waren.
    Mit schnellen Schritten lief sie weiter und entdeckte schließlich ein an den Hang gebautes, durch Fichten geschütztes Haus, auf das Greg geradewegs zusteuerte. Es war ein einfacher Holzkasten mit flachem Satteldach und einer großen Veranda, die zum Meer zeigte. Die verwitterten Zedernplanken hatten keinen Anstrich. Befestigt an der Veranda ragte ein imposanter Hauspfahl aus der Erde, der verschiedene stilisierte Wappentiere zeigte. Hanna erkannte einen Wal, einen Bären, Rabe und Otter und ganz oben saß ein Wolf, der einen kleinen Menschen hielt.
    Ein heftiger Stich fuhr durch ihre Brust und nahm ihr für einen Moment den Atem. Dieser Pfahl sah aus, als wäre er unter Jims Händen entstanden. Die Tierfiguren waren in ihre Bestandteile zerlegt und nach festen Gesetzmäßigkeiten wieder zusammengefügt worden. Der

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